Mehr Klartext, bitte! Zum offenen Brief an Kardinal Marx

In einem offenen Brief wandten sich vergangene Woche neun Theologen und Katholiken in Führungspositionen an Kardinal Reinhard Marx, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz – im Vorfeld der internationalen Tagung zum Thema Missbrauch vom 21.-24. Februar 2019 im Vatikan.

Mehrere kath.de-RedakteurInnen kommentieren die Forderungen des Briefs aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Unabhängigkeit von kath.de zeigt sich auch in den verschiedenen Sichtweisen innerhalb der Redaktion.

Ein roter Faden zieht sich durch alle Kommentare: Der Brief bräuchte mehr Differenzierung, mehr Klartext!


Seltsam zahm und verwaschen

Der Brief klingt seltsam weich gespült. Konkret zur Verhinderung von weiterer Vertuschung wird das Schreiben nicht, es kommt auf alte Forderungen zurück, Freistellung des Zölibats, Priesterweihe für Frauen, Neustart in der Sexualmoral. Es geht beim Missbrauch aber doch um Menschen, die in ihrer Sexualität auf Kinder hin orientiert sind. Diese Orientierung scheint nicht umprogrammierbar. Soll eine neue Sexualmoral das Problem irgendwie lösen? Wenn schon eine solche Petition, die doch eine Lösung des Problems zu versprechen scheint, dann sollten auch konkrete Vorschläge auf den Tisch, die auch Eingang ins Kirchenrecht finden müssen. Hier drei Vorschläge:

  1. Es muss eine vom Bischof, vom Ordensoberen und den jeweiligen Verwaltungen unabhängige Instanz geben, an die sich Missbrauchs-Opfer wenden können. Diese Instanz kann nicht Teil der kirchlichen Verwaltung sein.
  2. Verdachtsfälle müssen den staatlichen Gerichten gemeldet werden. Ein Personalverantwortlicher, der einen Täter nicht anzeigt, muss aus dem Amt entfernt werden. Hierfür bedarf es einer Regelung im Kirchenrecht.
  3. Täter, wie auch Männer im kirchlichen Dienst, die in ihrer Sexualität auf Kinder orientiert sind, haben Anspruch auf therapeutische Hilfe. Es muss insgesamt deutlich werden, dass Missbrauch nicht allein juristisch aufgearbeitet werden kann, sondern die Kirche den Auftrag hat, das heilende Vorbild Jesu auch für diese Menschengruppe wahrzunehmen.

Eckhard Bieger

Anhang: Die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie (MHG-Studie) kommt auf S. 15 zu folgender Empfehlung. Diese muss auch im Kirchenrecht verankert werden:

„Kontaktangebote für Betroffene
Die 27 Diözesen Deutschlands sollten eine von der Kirche unabhängige und interdisziplinär besetzte Anlaufstelle für Betroffene einrichten und finanzieren, die die Möglichkeit einer niederschwelligen und gegenüber der katholischen Kirche vertraulichen und auf Wunsch anonymen Beratung ermöglicht. Die gegenwärtige enge Anbindung der Missbrauchsbeauftragten an die Generalvikariate oder andere Stellen der katholischen Kirche erhöht für Betroffene die Schwelle hinsichtlich der Anzeige entsprechender Delikte und stellt die Vertraulichkeit von Beratungsgesprächen in Frage. ….. Ein erheblicher Anteil der Beschuldigten hat zahlreiche und wiederholte Missbrauchstaten begangen. Derartige Tatketten können unterbrochen werden, wenn möglichst frühzeitig Anzeige erstattet wird. Es müssen daher Bedingungen geschaffen werden, die den Betroffenen die Anzeigeerstattung erleichtern. Hierzu gehört eine unabhängige Anlaufstelle.“

Zu der Aufgabe, sich um die Täter zu kümmern, empfiehlt die MHG-Studie: „Die derzeitige Praxis einiger Diözesen, bei Missbrauchsbeschuldigungen gegenüber Klerikern sofort Strafanzeige zu erstatten und die Problematik damit vollständig an die staatliche Verantwortlichkeit zu delegieren, ist nicht ausreichend. Strafrechtliche Verfahren und Sanktionen entheben die katholische Kirche nicht der Verantwortung, die Interessen der Betroffenen zu wahren und zeitnah eigene Maßnahmen zu ergreifen. Auch gegenüber beschuldigten Klerikern besteht eine Fürsorgepflicht der Kirche. Wie im all-gemeinen Strafrecht sind fundierte Reintegrationskonzepte erforderlich.“

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Mittelalterliche Machtstrukturen

Der Brief drückt das aus, was viele Gläubige und wahrscheinlich auch zahlreiche Kirchenvertreter selbst denken. Die Missbrauchsskandale, die in den letzten Jahren vermehrt aufgedeckt wurden – und es ist anzunehmen, dass noch weitere folgen werden – haben einen großen Schatten auf die katholische Kirche weltweit geworfen. Den Missbrauch innerhalb der Kirche kann man nicht mehr rückgängig machen und die Entschuldigungen der Verantwortlichen sind für die Betroffenen nur ein schwacher Trost.

Die Bischöfe – und leider tun dies einige – brauchen nicht zu versuchen, in der sexuellen Orientierung mancher Geistlicher die Erklärungen für die geschehenen Taten zu suchen. Natürlich muss die Kirche auch ihre Sexualmoral neu bedenken, doch der Hauptgrund für den sexuellen Missbrauch liegt an den mittelalterlichen Machtstrukturen, die von der Kirche auch noch im 21. Jahrhundert weiter gepflegt und mit aller Macht verteidigt werden.

An dieser Stelle hätten die Verfasser des Briefes ruhig etwas mehr Klartext sprechen können. Zu viele Geistliche sehen ihre Weihe als eine Art Ritterspruch, der sie gottgleich macht. Ihr Wort ist Gesetz, gegen das keiner – schon gar nicht Frauen und Kinder – zu widersprechen hat.

Deshalb sollten die Bischöfe und Verantwortlichen, bevor sie einen Neustart mit der Sexualmoral wagen, zu allererst ihr Menschenbild bedenken und sich auf das besinnen, was sie selbst am Sonntag in der Messe predigen: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen [und] gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich.“ (1 Kor 12, 12-31)

Kerstin Barton

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Missbrauch als Totschlagargument

In einem offenen Brief zum Thema Missbrauch sollte es nahe liegen, Lösungen zum Umgang mit den Verbrechen und zur Prävention zu erwarten. Sollte – denn die Verfasser des offenen Briefes in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hatten offenbar andere Prioritäten: Gewaltenteilung, Weihen für Frauen, Freiwilligkeit des Zölibats, neue Sexualmoral i.e. Neubewertung von Homosexualität, lautet die illustre Liste der Forderungen.

Dass keines dieser Themen in einem Verhältnis zum Anlass des Briefes steht, scheint den Autoren nicht sonderlich wichtig. Für Verbindungen zwischen Missbrauch und den genannten Themen wird nicht argumentiert, nicht einmal andeutungsweise.

Anstelle von Argumenten wird Missbrauch als Totschlagargument für kirchenpolitische Forderungen ausgenutzt. Um dies möglichst effektiv zu tun, wird eine apokalyptische Darstellung der Situation der Kirche bemüht: Die Kirche zerbreche an überholten Strukturen und dem Missbrauchsskandal.

Doch das pessimistische Bild der Kirche scheint nur bedingt richtig. Viele haben sich abgewandt. Viele sind enttäuscht. Viele haben das Vertrauen in die Kirche verloren. Doch hatten so viele schon vorher wenig Kontakt, geringe bis keine Erwartungen an Kirche und Glauben. So ist der Missbrauchsskandal ein gewaltiger Stolperstein in dem Gesteinsgarten modernen Welt. Für die Grundsendung der Kirche ist es also nur ein Teil des Problems.

Auch geht es offensichtlich nicht mehr darum, herauszufinden, was in den theologischen und pastoralen Streitfragen die richtige Lösung ist. Vielmehr haben die Autoren die Lösungen, welche jetzt dringend umgesetzt werden müssen. Alle Forderungen sind, gelinde gesagt, kontrovers und schwierig mit der katholischen Tradition zu vereinen. Wenn, könnten sie momentan als Diskussionspunkte dienen, als Reformen sind sie wohl nicht zu gebrauchen. Lösungen für das gestellte Problem sind sie sowieso nicht. Die Forderungen sollten vielmehr in der Umsetzung der schon angefangenen Prävention, der klaren Aufklärung und angemessenen Bestrafung der Täter und der Hilfe für die Beteiligten liegen. Damit werden die systemischen Probleme, die zur Vertuschung der Taten geführt haben, tatsächlich angegangen. Weiter braucht es Hilfen für Opfer, nicht nur finanziell, sondern auch ganz klar spirituell, psychologisch und pastoral. Und so verrückt es scheinen mag: Auch die Täter sind Menschen. Auch, oder gerade sie, brauchen Hilfe, um ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Mir scheint die Kirche in Deutschland auf diesem Weg schon weit vorangeschritten. Noch weiter ist die gesellschaftliche Sicht auf das Problem, die klar bei der Null-Toleranz angekommen ist. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz sollte die Ergebnisse der Bemühungen der letzten Jahre um Aufarbeitung und Prävention als mögliche Optionen für andere Länder mit nach Rom zur Tagung nehmen. Besonders aber muss die deutliche Ablehnung von jeglicher Vertuschung weltweit Standard werden.

Philipp Müller

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Vorsicht mit der Modernisierung

Vollkommen richtig: Das Versperren des Priesteramts für Frauen gehört ebenso abgeschafft wie der abwertende, moralisierende Blick auf Homosexualität und andere Lebensentwürfe. Die Kirche würde durch diese längst überfälligen Schritte ebenso gestärkt, wie durch das Aufbrechen der eingespielten Männerbündelei.

Dennoch ist Vorsicht geboten. Die Kirche ist auch deswegen stark, weil sie in verschiedener Hinsicht ein Gegenmodell zur „Moderne“ darstellt oder darstellen kann. Die Modernisierung der Welt ist schließlich nicht bloß eine Erfolgsgeschichte, sondern hochgradig ambivalent. Neben der erreichten formalen Gleichheit der Geschlechter gehört etwa auch der Zynismus zur Bilanz der Moderne, der es uns erlaubt, Geld mit Waffen zu verdienen und Flüchtlinge in Nordafrika der Hölle auf Erden auszusetzen. Die Moderne hat mit den gesellschaftlichen Hierarchien auch die Moral entkräftet.

Die Kirche kann dagegen nur Einspruch erheben, wenn sie sich weigert, selbst diesen Weg zu beschreiten. Durch das Lehramt, einen verbindlichen Kanon und nicht hinterfragbare moralische Gebote kann die Kirche etwas leisten, was die liberale Moderne nicht kann: Werte setzen. Tut sie das im Sinne der Menschen, kann sie ein Fels im reißenden Fluss unserer Gegenwart sein; passt sie sich jedoch zu sehr an, wird sie kraftlos und – überflüssig.

Alexander Kern

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Neun Jahre Argumente - noch immer nicht durchgedrungen

Keine der Forderungen des Briefs ist neu. Doch hätten die Autoren die Argumente für ihre Forderungen noch einmal neu ausführen müssen. Einige der Unterzeichner haben das in den letzten Jahren beständig getan, haben ausführlich argumentiert und begründet. Offenkundig sind sie damit jedoch immer noch nicht durchgedrungen, zu vielen Laien nicht, aber auch nicht zu den Bischöfen.

Daher wäre es nötig gewesen, den Brief zu nutzen, um die Argumente noch einmal medienwirksam zu wiederholen und zu präzisieren. Weil das versäumt wurde, kommt der Brief holzschnittartig als leicht angreifbarer, weil kaum fundierter Forderungskatalog daher. Die Forderungen könnten – entgegen ihrer Intention – wie ideologischer Reformismus wirken. Zu diesem Eindruck könnten auch nicht weiter ausgeführte Schlagworte wie die „vormoderne Ordnung der Kirche“ beitragen.

Einige der Unterzeichner des Briefs haben sich in den letzten Jahren gewissermaßen in eine „privilegierte“ Position gebracht, weil sie den direkten Kontakt mit Betroffenen nicht gescheut haben. Sie haben sich deren Leid, deren Sorgen ausgesetzt, so etwa der Jesuitenpater Klaus Mertes mit den Betroffenen von sexueller Gewalt, Ansgar Wucherpfennig und der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz in der Seelsorge mit homosexuellen Gläubigen in der Frankfurter Stadtkirche. Diese direkte Begegnung führt zu anderen Erkenntnissen, einer geschärften Perspektive, die vielen anderen fehlt. Ohne diese Perspektive kann der Brief mit seinen einfach gestrickten Forderungen wie ein billiger Abklatsch alter Reformforderungen wirken. Von Zeitgenossen, die sich in den letzten Jahren medial nicht völlig blind und taub gestellt haben, kann man aber berechtigterweise erwarten, zu wissen, aus welchem Hintergrund sich die Forderungen der Unterzeichner jeweils speisen.

Der Forderungskatalog ist aber kein Missbrauch des Missbrauchs, keine kirchenpolitische Agenda auf dem Rücken der Betroffenen. Im Gegenteil. Es geht um die systemischen Gründe für Missbrauch innerhalb der Kirche.

Die Forderung, die Lebensform für Kleriker freizustellen, speist sich aus den Erfahrungen der letzten neun Jahre, den vielen Leidensgeschichten von Betroffenen sexueller Gewalt durch Kleriker. 2010 trug einer der Unterzeichner, der Jesuitenpater Klaus Mertes, maßgeblich dazu bei, dass der sogenannte „Missbrauchsskandal“ ins Rollen kam, dass Betroffene sich trauten, zu sprechen. Entscheidend war, ihnen endlich zuzuhören. Die zölibatäre Lebensform, das Männerbündische des Klerus scheint eine Anziehungskraft zu haben – auch für Menschen, die sich mit ihrer Sexualität schwertun, sich nicht damit auseinandersetzen wollen. Und für solche, die gerne Macht ausüben möchten. Denn der sakrosankte, kaum angreifbare Charakter des Priesterlichen, ergibt sich ja für nicht wenige aus dem Eindruck, der Priester bewirke durch seine großen Anstrengungen sexueller Enthaltsamkeit eine besondere Art heiliger Macht.

Die Forderung nach einer Neuorientierung der kirchlichen Sexualmoral, speziell in Bezug auf Homosexualität, erklärt sich mit Blick auf die anhaltende Ausgrenzung und Diskriminierung homosexueller Gläubiger und das Redeverbot für homosexuelle Priester – nach dem Motto: "Sprich nicht über deine sexuelle Orientierung, dann gibt es auch kein Problem und wir können Dich weihen!". Was für ein krudes Konzept von Wahrheit vermittelt die Kirche, wenn viele Priester über ihre Sexualität schweigen, ja lügen müssen? Hetero- wie homosexuelle Priester müssten in die Lage versetzt werden, über Sexualität auch in der 1. Person Singular sprechen zu dürfen und nicht professionell distanziert herumdrucksen zu müssen – in Seelsorgegesprächen, z.B. mit Paaren - heterosexuellen und homosexuellen - aber auch in der Berufungspastoral und in der Priesterausbildung.

Ein heterosexueller Priester kann ja sogar seinen Firmlingen vermitteln, dass er schon einmal verliebt war, mit einer Frau zusammen war, warum er sich dagegen entschieden hat, wenn sie fragen, wie das mit Sexualität, Liebe, Partnerschaft ist. Der Zölibat kann wesentlicher Bestandteil der priesterlichen Berufung sein. Ein Glaubenszeugnis in der Nachfolge Jesu. Nichts weniger soll ja der verpflichtende Zölibat nach Ansicht seiner Verteidiger sein. Und das ist er ja für viele Priester, die in dieser Lebensform glücklich sind, die sogar Kraft daraus schöpfen für ihre Arbeit. Es ist nicht zu vermitteln, warum ein homosexuell orientierter Priester kein authentisches Lebens- und Glaubenszeugnis geben darf.

Im Sinn der Missbrauchs- und Vertuschungsprävention ist es richtig, eine Form echter Gewaltenteilung in der Kirche zu fordern. In der Glaubenskongregation, die irrsinnigerweise zentralisiert für alle weltweiten Missbrauchsfälle zuständig ist, arbeiten vor allem Priester. Ein wichtiger Schritt, um die Macht in der Kirche sinnvoll zu verteilen, wäre, dass endlich auch Frauen mitbestimmen. Macht hängt in der Kirche aber vor allem mit der Weihe zusammen. Macht hat nur der zölibatäre Priester. Warum das problematisch ist, habe ich oben erläutert.

Da es kein theologisches Argument gegen die Weihe von Frauen gibt, ist auch die Forderung nach Weiheämtern für Frauen sinnvoll. Jüngst ist ein ranghoher Mitarbeiter der vatikanischen Kurie zurückgetreten, weil eine ehemalige Ordensschwester, Doris Wagner, ihm vorwirft, sie vor Jahren vergewaltigt zu haben. Seine Abteilung war auch mit Missbrauchsfällen betraut. Ein strafrechtliches Verfahren hat es nie gegeben. Laut Doris Wagner wurde der Priester von seinen Vorgesetzten „ermahnt, künftig mit Klugheit und Bedacht zu handeln“. Gewaltenteilung ist also dringend notwendig.

„Missbrauch in unserer Kirche hat auch systemische Gründe“ – so beginnt der Brief. Diesen Satz und dessen Bedeutung haben nicht nur die Unterzeichner in den letzten Jahren immer angeführt. Seine weitreichenden Implikationen werden immer noch nicht ausreichend gehört.

Matthias Alexander Schmidt

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