Von der Gender Pay Gap haben viele gehört. Frauen verdienen oft weniger als Männer für dieselbe Arbeit. Doch die Lücke zwischen den Geschlechtern existiert nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Medizin – mit teils tödlichen Folgen.

pexels/castorlystock
Medizin nach Schema F – für wen?
Biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind unbestreitbar. Warum werden sie in der Akutversorgung ignoriert? Historisch gesehen galt der männliche Körper Jahrhunderte lang als "Norm", während der weibliche oft als Abweichung von diesem Standard gilt. Das zeigt sich in klinischen Studien: Sie werden überwiegend von Männern durchgeführt und vor allem an Männern getestet. Selbst bei Tierversuchen sind 70 % der Versuchstiere männlich. Der Zyklus der Frau macht sie als Testpersonen "unpraktisch", denn die Hormonschwankungen im Körper verhindern standardisierte und generalisierbare Studienergebnisse – mit fatalen Folgen.
Medikamente, die nicht wirken
Arzneistoffe werden an Männern getestet, aber Frauen verschrieben. Dabei werden sie im weiblichen Körper ganz anders verstoffwechselt. Darüber hinaus haben die Geschlechtshormone der Frau Einfluss darauf, wie schnell die Leber bestimmte Wirkstoffe "verarbeiten" kann. Je nach Zyklusstand werden Medikamente deshalb langsamer abgebaut, was häufig zu Überdosierung führt. Schnell kann die im Beipackzettel empfohlene Dosis Schmerzmittel zu deutlichen Beeinträchtigungen im Alltag kommen. Auf der anderen Seite können Arzneimittel und Therapien, die bei Männern erfolgreich angewendet werden, für Frauen wirkungslos sein. Der Einsatz von Immuntherapie bei diversen Krebserkrankungen wird immer beliebter. Bei Männern kann es zu einem langfristig positiven Ergebnis führen, wohingegen der gleiche Therapieansatz bei Frauen weniger gut anspricht. Weil das Immunsystem von Frauen und Männern schlichtweg anders funktioniert. Ein Umstand, den die Forschung zu lange ignorierte.
DER Patient
Auch in der Diagnostik dominiert der männliche Standard. Dadurch, dass jahrhundertelang der männliche Körper als Standard in der Medizin galt, wird gerade bei der Akutversorgung DER Patient behandelt. Bei Engegefühl und Brustschmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen, denken die meisten direkt an "Herzinfarkt". Klassische Symptome - für einen Mann. Dass sich bei Frauen ein Herzinfarkt auch durch Magenprobleme, Müdigkeit und Rückenschmerzen äußern kann, ist im Volksmund weniger bekannt. Wer würde auch schon wegen Sodbrennen in die Notaufnahme fahren? Die Folge: Herzinfarkte enden bei Frauen häufiger tödlich, weil sie nicht so schnell entdeckt und behandelt werden.
Frauen und Männer haben zudem ein anderes Schmerzempfinden. Durch ihren höheren Testosteronspiegel nehmen Männer Schmerzen weniger intensiv wahr als Frauen, die zudem noch ein empfindlicheres Nervensystem haben. Auch die soziokulturellen Faktoren, die hinter der Äußerung von Schmerzen stehen, wurden in der Medizin in der Vergangenheit zu wenig berücksichtigt. Frauen tendieren oftmals dazu, Schmerzen und Beschwerden "einfach" in Kauf zu nehmen, weil dafür im Alltag mit Mehrfachbelastung durch Arbeit, Kinder und Haushalt kein Platz für Krankheiten ist. Der Laden muss schließlich am Laufen gehalten werden. Viele Frauen empfinden ein Gefühl des "Im-Stich-lassens", wenn sie krankheitsbedingt nicht funktionieren können. Die Konsequenz ist: Sie gehen viel später zum Arzt.
Nicht ernst genommen
Einige Krankheitsbilder sind aufgrund des "männlichen Standards" noch so wenig erforscht, dass die Beschwerden von Frauen jahrelang undiagnostiziert bleiben. Bestes Beispiel: Endometriose. Was lange Zeit als klassisches "Frauenleiden" betrachtet wurde, betrifft etwa jede zehnte Frau in Deutschland. Bis es jedoch zu einer Diagnose kommt, vergehen oft Jahre. Die damit verbundenen Schmerzen werden nicht ernst genommen und als "einfache" Regelschmerzen abgetan, weshalb auch wenig Studien zu dieser Erkrankung veranlasst wurden. Forschungsergebnisse gibt es erst seit wenigen Jahren, denn Männer haben eben keine Gebärmutter.
Die Medizin muss sich endlich von ihrem männlichen Standard lösen. Klinische Studien brauchen diversere Testgruppen, und Forschung muss geschlechtsspezifische Unterschiede systematisch berücksichtigen. Geschlechtersensible Medizin ist keine Sonderbehandlung – sie ist der einzige Weg zu einer gerechteren und besseren Gesundheitsversorgung für alle.