In Bolivien herrscht „latenter Bürgerkrieg“. Nach Jahren der Spannung und Gewalt ruft die katholische Kirche das Land zur Versöhnung auf. Doch dieser Aufruf bleibt kraftlos, solange sich die gesellschaftlichen Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen.
devil_dear13 auf Pixabay
Die bolivianische Gesellschaft ist gespalten. Beobachter sprechen bei dem südamerikanischen Land mit der proportional größten indigenen Bevölkerung von einem „latenten Bürgerkrieg“. Wie so oft ist die Spaltung zunächst ökonomisch bedingt. Auf der einen Seite steht die ärmere Landbevölkerung, die Bauern, und auch die Arbeiter und Tagelöhner in den Städten; auf der anderen Seite eine in Richtung USA orientierte Ober- und Mittelschicht. Auch die Streitfragen sind naheliegend: Wem gehört das Ackerland, wer hat gesellschaftliche Aufstiegschancen und wer profitiert von der Ausbeutung der Rohstoffe, etwa den Lithiumvorkommen des Landes? Die sozialistische MAS-Partei würde den mit den Bodenschätzen verbundenen Reichtum gerne im Land behalten. Ihre Gegner vertreten eher das Interesse internationaler Konzerne, die das für die Produktion moderner Akkus unabdingliche Leichtmetall ihrerseits fördern und verwerten wollen. Dieser ökonomische Konflikt wird – auch das nicht untypisch – von identitätspolitischen Konflikten überlagert. Die indigene Bevölkerung steht traditionell auf der Seite der MAS und ihres Vorsitzenden Evo Morales, obwohl in den letzten Jahren infolge eines ökonomischen Aufstiegs einiger Indigener auch ein gewisser Konsumismus und damit eine Abwendung von der Linken Einzug gehalten hat. Auf der anderen Seite gewinnen evangelikale Prediger stetig an Einfluss. Auch gefördert aus den USA hat sich der Anteil der Evangelikalen von 1996 bis 2013 von sieben auf 17% erhöht. Diese Entwicklung erfüllt auch die katholische Kirche mit Sorge. Bei der von Papst Franziskus initiierten Amazoniensynode 2019 wurde das Verhältnis zu Evangelikalen, Freikirchen und Pfingstlern als „nicht einfach“ beschrieben. Eine diplomatische Formulierung.
Morales‘ schärfste Kritiker
Die entschiedensten Gegner der MAS finden sich in Santa Cruz, der reichsten Provinz des Landes. Die weiße Oberschicht wohnt dort in gated communities, pflegt einen westlichen Lebenswandel, fährt SUV und besucht evangelikale Gottesdienste. In diesem Milieu gedeihen auch faschistische und gegenüber der indigenen Bevölkerung offen rassistische Gruppen, wie die Unión Juvenil Crucenista. Diese wurde von Carlos Valverde Barbery gegründet, der seinerseits der Bolivianischen Sozialistischen Falange angehört. Diese Gruppe nahm sich bei der Namensgebung 1957 die spanische Falange zum Vorbild: Die faschistische Bewegung Francos. Der Klassenkonflikt wird in Bolivien also entlang unterschiedlicher Linien ausgetragen: Es geht um das Verhältnis der Stadt- und der Landbevölkerung, um die Lage der Indigenen, die immerhin 41% der Bevölkerung ausmachen, deren ökonomische Aufstiegschancen und – vielleicht hauptsächlich – darum, ob das Lithium des Landes von Staatsbetrieben oder internationalen Großkonzernen ausgebeutet werden soll.Diese Konflikte werden von den Akteuren immer wieder auch religiös gefärbt. In Santa Cruz und unter den Evangelikalen wird häufig gegen die vermeintlich „gottlosen“ Indigenen polemisiert, während die bolivianischen Sozialisten auch zur katholischen Kirche ein spannungsvolles Verhältnis haben. Zuletzt erschien der Konflikt jedoch in juristischem und politischem Gewand, bevor er in offene Gewalt umschlug.
Der Putsch 2019
2019 wurde der seit 2006 regierende Evo Morales als Präsident wiedergewählt. Teile der Bevölkerung und internationale (zumeist US-amerikanische) NGOs warfen Morales jedoch Wahlbetrug vor: Die Verfassung erlaube keine dritte Amtszeit desselben Präsidenten. Diese Vorwürfe sind juristisch umstritten und schwer zu prüfen, zumal sogar Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) Morales zum Teil in Schutz nehmen. Die politischen Konsequenzen waren jedoch eindeutig: Polizei und Militär drängten Morales und seinen Stellvertreter zum Rücktritt und ins Exil. Ein Vorgang, der üblicherweise als Putsch bezeichnet wird.
Als Interimspräsidentin wurde die Rechtsliberale Jeanine Áñez Chávez eingesetzt. Diese besetzte ihr Kabinett ausschließlich mit Wirtschaftseliten aus Santa Cruz und drängte die Repräsentanten der indigenen Bevölkerung aus der Regierung. Áñez wurde dabei von Evangelikalen unterstützt, warb jedoch auch um die Gunst der katholischen Kirche, indem sie ihre Auftritte mit christlicher Symbolik inszenierte. Unter dem Vorwand, die Ordnung wieder herzustellen und Neuwahlen vorzubereiten, versuchte sie die MAS zu schwächen und ihre Strukturen zu zerschlagen. Sie sicherte dem Militär Immunität beim Einsatz gegen Demonstranten zu, ließ MAS-Mitglieder verhaften und paramilitärische faschistische Gruppen gewähren. Eine freie Berichterstattung wurde behindert und Áñez selbst schürte öffentlich Hass und Ressentiments: In einem Tweet kündigte sie an, die „rückständigen“ Indigenen „zurück in die Berge“ treiben zu wollen. Als sich in der Bevölkerung Widerstand gegen die Interimsregierung formierte, fuhren Panzer auf. Staatliche und nichtstaatliche Gruppen übten vielfach massive Gewalt gegen die demonstrierenden Bauernverbände, Gewerkschaften und Indigenenvertreter aus. Menschenrechtsorganisationen berichteten schon 2019 von Massakern an unbewaffneten Demonstranten. Diese Vorwürfe sind mittlerweile von unabhängigen Gremien bestätigt und werden selbst von Gegnern der MAS nicht bestritten. Die International Human Rights Clinic der Harvard Law School spricht angesichts dieser Verbrechen von einem „schwarzen November“.
Neuwahl und Konsequenzen 2020
Im Oktober 2020 fanden Neuwahlen statt, die die sozialistische MAS klar gewann. Unter dem neuen Präsident Luis Arce konnte auch Morales aus dem Exil zurückkehren. Arce kündigte an, alle am Putsch und an den Massakern beteiligten militärischen und paramilitärischen Gruppen aufzulösen, die Verbrechen aufzuklären und die Opfer und deren Familien zu entschädigen. Seither sitzt auch Áñez im Gefängnis, um sich für die Greueltaten während ihrer Amtszeit zu verantworten.
Dass gegen Áñez noch nicht offiziell Anklage erhoben wurde, nehmen US-Amerikanische NGOs, denen die bolivianische Linksregierung ohnehin ein Dorn im Auge ist, zum Anlass, die MAS zu kritisieren: Hat es nicht möglicherweise auch Gewalt vonseiten der Demonstranten gegeben? Verdient nicht auch Áñez – obwohl sie selbst etliche politische Gegner verhaften ließ – ein faires Verfahren?
Diese Position vertritt auch die bolivianische Bischofskonferenz, die jüngst zur Versöhnung der Bevölkerung aufrief. Dabei ist der Sachverhalt juristisch kompliziert: Beim Staatsstreich selbst war Áñez keine prominente Akteurin. Ein Verfahren müsste sich auf ihre Verantwortung für die Verbrechen während ihrer Präsidentschaft beziehen. Als ehemalige Präsidentin genießt Áñez jedoch Immunität, die ihr nur das Parlament entziehen kann. Dafür ist laut Verfassung eine 2/3-Mehrheit nötig, die die MAS jedoch nicht bekommt, solange Áñez‘ parlamentarischen Unterstützer ihr weiter die Stange halten.
Teile der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen fordern, ebenso wie die Parteibasis der MAS, Konsequenzen für die Verantwortliche der Verbrechen von 2019. Um diesem Bedürfnis nachzukommen, bleibt dem neuen Präsidenten nur die Möglichkeit, Áñez ohne Verfahren festzuhalten. Dies könnte sich jedoch als Fehler erweisen; schließlich kann es auch nicht im Interesse der neuen Regierung sein, eine Märtyrerin zu schaffen, deren Lage politisch instrumentalisiert werden kann.
Die Rolle der Kirche
Die katholische Kirche scheint indes zu versuchen, zwischen Skylla und Charybdis hindurch den Weg des Friedens zu gehen. Denn weder kann sie sich auf die Seite der Putschisten von 2019 stellen, noch scheint ihre Beziehung zur MAS hier eine offene Kooperation zu ermöglichen. So stehen sich weiterhin zwei Seiten unversöhnlich gegenüber, wobei die Kirche eine Haltung suchen muss, die ihr nicht als Opportunismus – oder gar als Verrat an die Macht ausgelegt werden kann.
Dazu:
* Bolivien und sein Latenter Bürgerkrieg (Le Monde diplomatique, 08.04.2021)
* Die Faschisten von Santa Cruz (Le Monde diplomatique, 13.08.2020)
* Bolivien träumt von Lithium (Le Monde diplomatique, 09.01.2020)
Zur Sicht der Kirche:
* Bolivien: Expertenbericht wird politisch vereinnahmt (Blickpunkt Lateinamerika, 25.08.2021)
* Kirche zwischen den Stühlen (domradio.de, 02.09.2021)
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Ist Ihnen dieser Beitrag einmalig 3,- bis 5,- oder sogar 10,- € wert?
kath.de bekommt keine Kirchensteuer und kein Geld von „der Kirche“, sondern ist finanziell und institutionell unabhängig. Für diese Unabhängigkeit sind wir auf Beiträge von unseren Leser:innen angewiesen. Mit einem gemeinnützigen Verein ermöglichen wir dem Autor dieses Beitrags und anderen jungen Menschen ihren qualifizierten Einstieg in mediale Berufe, wie Journalist:in und Autor:in.
Hier klicken, um mehr zu erfahren
Spendenkonto:
Kontoinhaber: publicatio e.V. (gemeinnütziger Trägerverein von kath.de)
IBAN: DE 88 4305 0001 0036 4097 87
BIC: WELADED1BOC
Sparkasse Bochum
Verwendungszweck: kath.de
Wir sind auch sehr dankbar für größere und regelmäßige Spenden.
Ab 300 € senden wir Ihnen gerne eine Spendenbescheinigung zu.
Mit PayPal spenden
Wichtig: Klicken Sie bei (Optional) Verwenden Sie diese Spende für auf kath.de!