Der deutsche Tennisspieler und Olympiasieger Alexander Zverev hat Diabetes. Das machte er vor einigen Wochen öffentlich. Unser Chefredakteur lebt selbst seit zehn Jahren mit Typ 1 Diabetes. Er findet Zverevs „Coming out“ mutig. Denn Diabetes wird oft als Schwäche gesehen und ist eine andauernde Herausforderung, die viel mit seelischer Gesundheit zu tun hat.
Diabetes-Alltag: Blutzucker messen & Insulin spritzen (Foto: Steve Buissinne/Pixabay)
Seit zehn Jahren lebe ich mit Typ 1 Diabetes – er ist eine Autoimmunerkrankung. Mein Immunsystem hat in einem Angriff gegen sich selbst dafür gesorgt, dass meine Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr herstellt, also habe ich einen absoluten Insulinmangel. Ständig muss ich Insulin von außen zuführen, sonst kommt kein Zucker in meine Körperzellen und Muskeln. Der Zucker bleibt dann im Blut. Das schadet allen Gefäßen und Organen. Diabetes ist deshalb ein 24 Stunden-Job und steht daher in engem Zusammenhang mit seelischer, psychischer Gesundheit. Allein statistisch gesehen gibt es ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen unter Menschen mit Diabetes, vor allem für Depressionen und Angststörungen. Menschen, die mit Typ 1 Diabetes leben, müssen bis zu 180 auf die Gesundheit bezogene zusätzliche Entscheidungen pro Tag treffen. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Wochen müssen wir ständig auf alles Mögliche achten. Es geht keineswegs nur um Nahrungsaufnahme. Alles, das ist keine Übertreibung, alles hat einen Einfluss auf den Blutzucker. Ich kann mehrere Tage hintereinander alles ganz genauso machen und doch völlig andere Werte haben. Das kann sehr frustrierend sein.
Was ich auch tue, ich bleibe krank
Eine Erkenntnis ist besonders ermüdend und oft niederschmetternd. Selbst wenn ich alles für meine Gesundheit tue, was ich kann, wenn ich alles richtigmache: Ich bin und bleibe krank. Mein Leben lang. Es hört nie auf. Es gibt keine Pause, keinen Urlaub vom Diabetes. Diabetes ist wie ein zusätzlicher Zweitjob, bei dem erwartet wird, dass man immer verfügbar ist. Aufhören oder gefeuert werden ist keine Alternative. Wenn ich mich nicht darum kümmere, sterbe ich. Man könnte Diabetes auch mit einem Säugling vergleichen, der nie wirklich über die ersten paar Lebenswochen hinauswächst und kaum schläft. Wenn ich mich gut um ein einigermaßen gesundes Baby kümmere, wird das Kind bald immer selbstständiger und braucht mich weniger intensiv. Das ist bei Diabetes nicht der Fall. Er braucht ständig Aufmerksamkeit.
Diabetes-Therapie: Kein „Mind-Set“
Oft habe ich schlaflose Nächte wegen Glukose-Alarmen von den unterstützenden Geräten, die es an sich ein klein wenig einfacher machen. Aber auch die Technologie heilt den Diabetes nicht. Ärzte, Verwandte, teils mir völlig unbekannte Menschen wollen gerne, oft in guter Absicht, reden mir in meine Diabetes-Therapie und meine gesundheitlichen Entscheidungen rein, wissen es scheinbar besser, geben Ratschläge. Dazu kommt die Angst vor Folgeschäden und vor Unterzuckerungen. Am größten ist die Angst, für meine Krankheit bemitleidet oder für meinen Umgang damit bewundert zu werden. Diabetes ist nämlich keine Schwäche, die ich in neoliberaler Ideologie mit genügend Selbstdisziplin und „Mind-Set“ überwinden könnte oder müsste. Zugleich darf ich als Erkrankter die gesundheitlichen Einschränkungen und seelischen Folgen offen ansprechen.
Seelisches Wohlbefinden – heute weniger stigmatisiert
Das Thema seelische Gesundheit ist für meine Generation, die Millenials, und für unsere Nachfolge-Generationen wichtig. Wir sprechen über psychische Erkrankungen. Wir reden auch darüber, dass wir zur Therapie gehen. Das war für unsere Eltern und Großeltern noch viel schwieriger. Psychische Erkrankungen wie auch der Gang zu einem Therapeuten waren und sind teilweise bis heute stigmatisiert. Wir trauen uns mehr, darüber zu sprechen, denn unser eigenes Wohlbefinden ist uns wichtiger als die Angst, dass andere uns für komisch halten könnten. Übrigens erleben wir oft gerade das Gegenteil: Wir öffnen uns, sprechen über unsere Ängste, seelischen Belastungen und Erkrankungen, normalisieren sie auf diese Weise und bekommen dafür meist Anerkennung und Zuspruch in unserem Umfeld. Für mich selbst sorgen, zu meinen Bedürfnissen stehen – das wird als hilfreiche Tugend wahrgenommen.
Grenzen überwinden
So kann der Umgang mit Diabetes und anderen Erkrankungen, mit seelischen Belastungen stark machen. Die Krankheiten und Einschränkungen sind und werden dadurch nicht zu Stärken. Das wäre ein Missverständnis. Diabetes ist nichts Positives. Auch Traumata oder psychische Belastungen machen nicht stark. Aber der Umgang damit kann mich stärken: Wenn ich mich – nach meinen Möglichkeiten – nicht verstecke, sondern um Hilfe bitte und sie erhalte, wenn ich mit meinem Umfeld kommuniziere. Oft muss ich damit an meine eigenen und an gesellschaftliche Grenzen gehen, sie teilweise auch infrage stellen. Wenn ich die Krankheit, die Einschränkung als solche anerkenne, kann ich sie auch als Herausforderung begreifen. Dann ziehe ich einschränkende Regeln in Zweifel, kann um kreative, flexible Lösungen bitten und sie einfordern. Auch wenn alle sagen – dieses und jenes gehe nicht, kann ich zeigen, dass es doch geht. Meistens wollen die anderen nur nicht. Aber warum sollte ich meine Chancen auf Zufriedenheit und Glück, auf Gesundheit von der Ignoranz, dem Kleingeist anderer abhängig machen? Lieber einmal mehr fragen, ob etwas nicht doch geht. Nicht selten sind die Leute offener als man denkt, wenn auch vielleicht erstmal überrascht. Mir fällt da noch ein Jesus-Wort ein: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Ich habe eine Einschränkung und brauche Hilfe. Das ist eine respektable, starke Haltung. Ich bin nicht durch meine Erkrankung definiert. Aber es gibt auch keine Version von mir ohne sie. Also stehe ich dazu und kann dadurch über mich hinauswachsen mit der Hilfe von anderen.
Der Diabetes-Eisberg
Den Großteil der täglichen Herausforderung, die der Diabetes und andere chronische Erkrankungen bilden, machen wir Betroffene mit uns selbst aus. Jeden Tag und jede Nacht. Das ist der riesige Teil des Eisbergs unter Wasser. Das können wir gar nicht alles nach außen tragen – und viele der inneren Kämpfe gehen auch niemand anderen etwas an. Wer nur den Diabetes-Eisberg über Wasser sieht, nimmt nur den Teil über der Wasseroberfläche wahr – und dieser Teil von uns wirkt vielleicht manchmal klein und schwach. Deshalb kann ich gut nachvollziehen, dass Alexander Zverev erst kürzlich seinen Diabetes öffentlich gemacht hat. Man hätte ihm die Profikarriere nicht zugetraut, weil man ihn für schwach gehalten hätte. Mitleid, falsche Vorsicht oder Zurückhaltung, Taktgefühl, komische Blicke, das konnte er aber als Profisportler nicht gebrauchen. Doch wer glaubt, dass die 90% des Eisbergs unter Wasser nicht trotzdem stark und belastend zugleich sind, hat „Titanic“ offenbar nicht kapiert.