Weihnachten in einer schlesisch-stämmigen Familie: Im Haus unserer Chefredakteurin Kerstin Barton geht es an Heiligabend und an den Feiertagen sehr traditionell zu. Dieses kulturelle Erbe ist identitätsstiftend und zeigt sich vor allem bei Tisch.
Weronika Chilmon auf Smaki Weroniki
Im letzten Jahr habe ich mich intensiver mit Ahnenforschung beschäftigt. Immer mal wieder stöbere ich in alten Kirchen- und Standesamtbüchern und kann einen Teil meines Stammbaums mittlerweile bis ins Schlesien des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Schlesien ist die Region auf beiden Seiten des Ober- und Mittellaufs der Oder. Über die Jahrhunderte hinweg war es mal preußisch oder habsburgisch, deutsch oder polnisch. Seit 1945 gehört Schlesien mehrheitlich zu Polen. Wenn wir in der Familie also von Schlesien sprechen, geht es weniger um die geographische Zugehörigkeit, sondern in erster Linie um die kulturelle Identität. Diese zeigt sich ganz besonders an Weihnachten. Dann werden nämlich neben dem Fest auch unsere schlesischen Traditionen und Rituale gefeiert.
Der Tisch
Bei uns ist es Tradition, an Weihnachten einen Teller mehr einzudecken und einen Platz freizulassen. Dieser ist für einen ungeplanten Gast bestimmt, der wie Maria und Josef auf der Suche nach einer Herberge sein und bei uns anklopfen könnte. Als Kind hatte ich immer ein wenig Angst davor, dass tatsächlich ein Fremder bei uns klingeln und sich zu uns an den Tisch setzen würde. Gleichzeitig war ich aber auch unheimlich neugierig darauf, wie meine Eltern in so einer Situation reagieren würden und ob sie tatsächlich einen Wildfremden zu uns herein bitten würden. Außerdem legt jeder traditionell einen Geldschein unter sein Gedeck, verbunden mit dem Wunsch oder vielleicht eher Aberglauben, dass man im kommenden Jahr auch genügend Geld haben und keine Not leiden wird. Münzen würden dabei wohl auch ihren Zweck erfüllen, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.
Das Menü
Wie die österliche Bußzeit oder früher die Adventszeit, gilt der 24. Dezember bei uns als Fastentag. Das Frühstück fällt bescheiden aus und auch zum Mittag gibt es selten mehr als eine klare Brühe oder ein Brot mit Butter. Meine Tasse Kaffee koche ich mir unter dem tadelnden Blick meines Vaters, der das Fasten ganz besonders ernst nimmt. Da der Heilige Abend ein Fastentag ist, verzichten wir in unserem Festtagsmenü auf Fleisch. Die Weihnachtsgans gibt es erst am 25. Dezember. Heiligabend ist fleischlos, aber nicht weniger festlich.
Traditionell gäbe es eigentlich eine Erbsensuppe als Vorspeise. Diese wurde in meiner Familie aber schon vor Generationen durch eine Pilzsuppe ausgetauscht. Einziger Grund: Sie ist weniger sättigend und es folgen noch zwei weitere Gänge. Im Hauptgang wird gebratener Fisch mit Kartoffeln und Sauerkraut serviert. Gemäß der schlesischen Tradition wäre Karpfen eigentlich der bevorzugte Fisch. Bei meiner Tante werden die Karpfen auch heute noch lebend gekauft und schwimmen bis zum 23. Dezember in der Badewanne. Da weder meine Eltern noch ich große Karpfen-Fans sind, kommt bei uns in der Regel Barsch oder ein anderer Fisch auf den Tisch. Zum Nachtisch gibt es schlesische Mohnklöße, für die gemahlener Mohn mit altem Brot, Milch, Nüssen und, je nach Geschmack, Trockenfrüchten vermengt werden. Dieses Dessert wird nur an Heiligabend und in manchen Familien an Silvester zubereitet.
Fisch mit Sauerkraut, Mohn mit altem Brot: Hier in Deutschland eher untypische Kombinationen. Doch das Menü gründet sich in den Möglichkeiten der mehrheitlich ländlichen schlesischen Bevölkerung. Für die einfache Landbevölkerung oder die Arbeiterfamilien kamen nur regionale und saisonale Produkte in Frage. Am besten Lebensmittel, die man selbst angebaut, gesammelt oder eingelegt hatte. Sowohl Erbsen als auch Pilze sind getrocknet lange haltbar. Auch heute noch verwenden wir die Pilze, die wir im Herbst selbst gesammelt haben. Kartoffeln und Kraut konnten ebenfalls gut eingelagert werden und waren somit auch im Winter verfügbar.
Der Abend
Gegessen wird am Heiligen Abend erst, wenn der erste Stern am Himmel steht. Erst dann beginnt Weihnachten – ein Zeichen für den Stern von Bethlehem, der über dem Stall das Wunder der Heiligen Nacht gezeigt haben soll. Vor dem Essen wird natürlich gemeinsam gebetet. Und auch wenn man nur unter sich in den eigenen vier Wänden feiert, braucht zum Esstisch niemand in Jogginghose aufzutauchen. An Heiligabend heißt es: Schick machen! Nach dem Essen werden traditionell gesegnete Oblaten unter den Gästen verteilt. Dünne, rechteckige Oblaten, die nur aus Mehl, Wasser und Stärke hergestellt werden und mich aufgrund ihrer Größe und der darauf eingravierten Motive immer an essbare Postkarten erinnern. Während man sich eine frohe Weihnacht wünscht, darf man sich ein Stück der Oblate beim Tischnachbarn abbrechen. Ein Ritual, das an die gemeinsame Feier der Eucharistie erinnert. Meine Tante schickt uns jedes Jahr aus Polen gesegnete Oblaten, damit diese Tradition an Heiligabend nicht fehlt. Nach dem Essen wird die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Ein Brauch, den wir seit meiner Kindheit praktizieren. Heute bin ich diejenige, die vorliest, nicht mehr mein Vater. Auch wird nicht immer das Weihnachts-Evangelium vorgetragen, sondern auch mal eine andere weihnachtliche Geschichte. Danach wird gemeinsam vor dem Tannenbaum gesungen. Erst dann gibt es die Bescherung. Dass danach noch ein Schnaps getrunken wird, gehört nicht unbedingt zur schlesischen Weihnacht, aber schon seit Generationen zur Familientradition. Die letzte Tradition des Heiligen Abends ist der Besuch der Mitternachtsmesse um 24 Uhr.
Identitätsstiftend
Natürlich gibt es nicht die eine schlesische Weihnacht. Jede Familie macht das eine oder andere auf ihre individuelle Weise. Doch diese Weihnachtstraditionen geben Sicherheit und sind identitätsstiftend. Nicht nur innerhalb der Familie, sondern innerhalb einer überregionalen kulturellen Gruppe. Ich fühle mich mit meinen Vorfahren, mit der Herkunft meiner Familie verbunden, habe eine kulturelle und moralische Grundlage, in der ich verwurzelt bin. So stehen viele unserer Weihnachtstraditionen für Eigenschaften und Werte, die ich versuche, im ganzen Jahr zu leben. Das Menü ist bescheiden und mit Rücksicht auf die Lebensmittel-Saisonalität gewählt. Im Mittelpunkt stehen jedoch Traditionen, die Gemeinschaft, Gastfreundlichkeit und Nächstenliebe ausdrücken.
Ach ja: Über Weihnachten und Silvester darf keine Wäsche auf der Leine hängen, das bringt nämlich Unglück im nächsten Jahr.