An Karfreitag laden viele Gemeinden und Bistümer laden dazu ein, symbolisch mit Jesus den Kreuzweg gehen, sich selbst auf einen persönlichen Kreuzweg zu begeben. Die Kreuzeslast der heutigen Zeit ist gerade bei der jüngeren Generation von Leistungsdruck und sozialen Medien bestimmt. Doch auch die Corona-Pandemie begleitet uns auf unserem persönlichen Leidensweg.
Wilfried Pohnke auf Pixabay
Verurteilung und Belastung
„Um die Menge zufriedenzustellen, gab Pilatus den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen!“ (Mk 15,15)
Fake News, Shitstorms, Hasskommentare: Wir urteilen jeden Tag. Ständig werden wir mit Beurteilungen und Bewertungen konfrontiert. Dienstleistungen, Konsumartikel, Essen, Reisen, alles wird heute leichtfertig bewertet. Wir haben das Gefühl, auch eine Meinung haben zu müssen und lassen uns dazu verleiten, unser Urteil abzugeben. Ob mit Daumen, Sternen oder Kommentaren. Die Anonymität des Internets, die Einschränkungen durch die Corona Krise haben die Hemmschwelle noch zusätzlich gesenkt. Dabei waschen wir unsere Hände auch gerne in Unschuld. „Es gibt doch schon unzählige Kommentare, was sollte da an meinem so schlimm sein?“ Wenn wir uns der mehrheitlichen Meinung anschließen, tauchen wir in der Menge unter, fühlen uns stark und von den anderen bestätigt.
Doch Worte haben Macht. Schnell und vielleicht auch gedankenlos getippt, legen sie dem Empfänger, der Verurteilten eine Last auf die Schultern. Vor allem für die jüngere Generation ist Feedback für ihre Selbstwahrnehmung enorm wichtig. Jugendliche sind noch dabei, ihren Platz in der Gesellschaft, sich selbst zu finden. Die gefilterte und inszenierte Welt der sozialen Medien erhöht zusätzlich den Druck, makellos, perfekt, immer gut drauf zu sein.
Versagen und Scham
„Der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53,6b-7)
Die Leistungsgesellschaft setzt uns unter Druck. Selbst Kinder im Grundschulalter fühlen sich immer häufiger gestresst, überfordert, weisen erste Zeichen von Burnout auf. Nur wer etwas leistet, ist etwas wert. Ergebnisse zählen. Zeit ist schließlich Geld. Deswegen müssen wir auch jeder Zeit und überall erreichbar sein. Denn wer nicht erreichbar ist, verpasst etwas. Wir haben verlernt abzuschalten, ob das Smartphone oder unseren Kopf. Denn Abschalten kommt einer Kapitulation gleich. Man hält nicht mehr mit den Erwartungen und Ansprüchen der Gesellschaft Schritt. In diesem Spiel der Leistungsgesellschaft sind wir Einzelkämpfer. Vor allem junge Erwachsene wollen ihre Unabhängigkeit, ihre Selbstständigkeit beweisen, sich vom Elternhaus abnabeln. Doch irgendwann ist der Druck zu groß. Wir brechen unter der Last des „immer funktionieren Müssens“ zusammen. Die Folgen: Burnout, Depression, Gefühle von Versagen, wenn ich trotz Anstrengung nicht die Leistung bringe, die von mir erwartet wird, die ich selbst von mir erwarte. Versagen, weil man trotz erfolgreichem Studium keine Arbeit findet, weil die Ehe zerbricht, eine Partnerschaft auseinander geht, man in finanzielle Not gerät.
Wie sehr werden die Gefühle des Versagens und der Scham noch verstärkt, wenn ich mir mein Scheitern nicht nur selbst eingestehen muss, sondern auch noch gegenüber meinen Eltern und anderen nahestehenden Personen? Der Kreuzweg Jesu kann dazu einladen, einen Perspektivwechsel zu wagen. Wie schwer ist die Last, die einem Elternteil, die Maria in diesem Augenblick auferlegt wird, wenn sie das eigene Kind am Boden sieht. Es bricht jedem Elternteil das Herz, das Kind unter dem Druck der Gesellschaft, der Last des Kreuzes zusammenbrechen zu sehen. Das Kreuz, das Maria aufgelegt wird, ist genauso schwer, wie das Kreuz Jesu. Ihr Kreuzweg ist genauso lang.
Hilfe
„Sie ergriffen einen Mann aus Zyrene namens Simon, der gerade vom Feld kam. Ihm luden sie das Kreuz auf, damit er es hinter Jesus hertrage.“ (Lk 23,26)
Simon von Zyrene und Veronika, die Jesus das Schweißtuch reicht, sind Beispiele für Helferinnen und Begleiter, die uns auf unserem persönlichen Kreuzweg immer wieder begegnen, die wir aber nicht immer auch als Helfer:innen wahrnehmen. Simon hat sich nicht freiwillig gemeldet. Er wurde dazu bestimmt und hat doch Jesus entlastet, die Last mitgetragen. Im Alltag begegnen wir immer wieder Menschen, die uns zufällig Hilfe leisten, ohne dass wir danach fragen. Gleichzeitig werden auch wir immer wieder vor Situationen gestellt, in denen wir ungefragt zu Helferinnen werden, etwa wenn unsere Zivilcourage verlangt wird. Anders als Simon entscheidet sich die biblische Veronika bewusst dazu, Jesus zu helfen. Die Corona-Pandemie hat viele Menschen dazu veranlasst, sich freiwillig und ehrenamtlich für ihre Mitmenschen zu engagieren. Ob als Einkaufshilfe und Telefonkontakt für Risikogruppen, als freiwillige Helfer in Test- und Impfzentren und auf vielfältig andere Weise. Die Pandemie hat allerdings auch gezeigt, dass es in Ordnung ist, um Hilfe zu bitten, Hilfe anzunehmen.
Mitgefühl und Mitleid
„Es folgten ihm Frauen, die um ihn klagten und weinten. Jesus sagte zu ihnen: Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über mich, weint über euch und eure Kinder.“ (Lk 23,28)
Die weinenden Frauen kannten Jesus nicht persönlich und waren von seinem Schicksal dennoch so ergriffen, dass sie um ihn geweint haben. Sind wir angesichts der überwältigenden Nachrichtenlagen heute noch fähig, um andere zu weinen, mit „Fremden“ zu fühlen oder sind wir schon zu sehr abgestumpft? Berichte über Anschläge, Katastrophen, Familientragödien begleiten uns täglich. Fühlen wir noch mit, wenn wir die täglichen Zahlen der Corona-Opfer lesen? Leiden wir mit den Angehörigen mit?
Mitgefühl und Mitleid mit Fremden erleben wir aktuell auch bei den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegekräften, die teilweise bis über ihre Belastungsgrenze hinaus gehen, um die Patienten auf Intensivstationen oder Hospizen beim Sterben zu begleiten.
Öffentlich Bloßgestellt
„Sie warfen das Los und verteilten seine Kleider unter sich.“ (Mt 27,35)
Im Internet und in den sozialen Medien verbreiten sich Hass und Demütigungen. Schnell ist ein Shitstorm entbrannt. Vor allem junge Menschenwerden für ihre persönlichen Bilder oder Videos verspottet, beleidigt, bedroht. Oft reichen schon wenige Worte, um eine Welle der Beleidigungen loszutreten. „Dann hätte er/sie es halt nicht posten sollen“, liest man als Rechtfertigung. Die Lebenswelt, insbesondere der Jugendlichen, hat sich zunehmend in den digitalen Raum verlagert. Die Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken gehört dazu. Sie offenbaren ihre innersten Gedanken und Gefühle, ihre „Persönlichkeit“ und erfahren dafür Spott und Beleidigungen. Sie stehen nackt da. Öffentlich bloßgestellt, am Pranger für alle sichtbar. Das Internet vergisst nicht. Und der Hass aus dem Internet verlagert sich schnell in die reale Welt. Hassbeiträge und Cybermobbing werden zu Ausgrenzung und Mobbing in der Schule, fremdenfeindliche Kommentare zu rassistisch motivierten Übergriffen.
Den Tod bewusst machen
„Jesus aber schrie noch einmal laut auf. Dann hauchte er den Geist aus.“ (Mt 27,50)
Im Februar nahm sich die Influencerin Kasia Lenhardt mit nur 25 Jahren mutmaßlich das Leben, nachdem ihre Social Media Profile in den Wochen zuvor massiv mit Hassnachrichten, Beleidigungen und Drohungen geflutet wurden. Boulevardmagazine berichteten fast täglich über ihre Schlammschlacht mit ihrem Ex-Freund, dem Fußballer Jérôme Boateng. In Deutschland begehen jährlich ca. 9.000 Menschen Suizid, 25 Menschen am Tag. 25 Menschen am Tag fühlen sich dem Druck und der Last ihres persönlichen Kreuzes nicht mehr gewachsen.
Seit gut einem Jahr konfrontiert uns die Corona-Pandemie mit unserer eigenen Sterblichkeit, für manche vielleicht härter denn je. Die Intensivstationen sind voll von Menschen jeden Alters. Knapp 3 Millionen Menschen sind dem Virus weltweit bereits zum Opfer gefallen, 75.000 davon allein in Deutschland. So zwingt uns der Kreuzweg heute auch dazu, nicht nur Jesu Tod in den Blick zu nehmen, sondern auch unseren eigenen.
In Würde sterben
„Und er nahm ihn vom Kreuz, hüllte ihn in ein Leinentuch und legte ihn in ein Felsengrab, in dem noch niemand bestattet worden war.“ (Lk 23,53)
Jesus wird in den Schoß seiner Mutter gelegt. Sie kann sich verabschieden und ihn zu Grabe tragen. Ein unvorstellbares Leid, das eigene Kind zu verlieren, einen so jungen Menschen zu verabschieden. Das ist in Corona-Zeiten nicht immer möglich. Wie viele Infizierte sterben einsam, isoliert und ohne Begleitung auf den Intensivstationen oder in Altersheimen? Wie vielen Angehörigen bleibt die Möglichkeit verwehrt, sich zu verabschieden? Wir erinnern uns an die Bilder aus Bergamo mit den Lastwagen voller Särge. Die Nachrichten von überlasteten Krematorien, in denen sich die Särge stapeln, sind nur wenige Monate alt. Wir werden in dieser Zeit nicht nur verstärkt mit unserem eigenen Tod konfrontiert, sondern auch mit der Frage, wie Sterben und Beisetzungen in Würde trotz Quarantäne und Isolation gelingen können.