Wir würden 2020 gerne abschließen, das Krisenjahr endlich hinter uns lassen. Doch dann hängen uns die kollektiv-traumatischen Erfahrungen aus der Pandemie nach. Wir dürfen die Tür einen Spalt breit offenlassen, uns erlauben, zurückzuschauen.
L_Di auf Pixabay
An der Schwelle zum neuen Jahr sind wir es gewohnt, auf die vergangenen 365 Tage zurückzuschauen. Seit hunderten von Jahren versuchen Menschen, sich mit Bräuchen und Riten rund um den Jahreswechsel von Altlasten des vergangenen Jahres zu befreien und die Zukunft des neuen Jahres vorauszusagen, gar zu beeinflussen. Ob mit den Ritualen während der Rauhnächte oder durch das Bleigießen in der Silvesternacht, kurz vor dem Jahreswechsel versuchen wir, ungeklärte Angelegenheiten des ablaufenden Jahres zu klären, uns von Altlasten reinzuwaschen und das Glück für das kommende Jahr auszulosen. Das erweckt den Eindruck, als könnte man an Silvester einfach auf „Reset“ drücken und an Neujahr komplett „bei Null“ anfangen. Es liegt etwas Besonderes in diesem Übergang von einem Jahr ins nächste. Wir übertreten die Schwelle des Jahreswechsels immer wieder mit der Hoffnung, eine Tür hinter den Sorgen und Problemen des Alten zu schließen und um Mitternacht die Tür zu einem leeren Raum zu öffnen, der genügend Platz für unsere Pläne, Wünsche und Träume bereithält.
Bye Bye 2020
„Könn’n wir vorspul’n
Und so tun, als wäre alles wieder gut?
Weißt du, wovon ich grad am liebsten träum‘?
Dass du mich weckst und sagst, „Es ist vorbei!“
(„Bye Bye“ – Sarah Connor)“
Die deutsche Popsängerin Sarah Connor fiebert dem Jahresende mit einem eigens dafür komponierten Lied entgegen. Selten hat man kollektiv so sehr das Ende eines Jahres herbeigesehnt wie in diesem Jahr. 2020, endlich bist du vorbei! Dieses Jahr wird wohl als das Corona-Jahr in die Geschichte eingehen. Die Pandemie hat das Leben weltweit auf den Kopf gestellt. Das Virus hat Existenzen zerstört, Leben genommen. Und gerade in dieser Zeit der Sorgen und Hoffnungslosigkeit blieb uns die Nähe zu lieben Menschen versagt. Trotz Reisebeschränkungen hat sich das Jahr wohl überall auf der Welt ähnlich angefühlt. Seit dem Frühjahr verging kein Tag ohne verstörende Bilder von überfüllten Intensivstationen, Live-Ticker verkündeten den Anstieg der Corona-Toten in Millionenhöhe und beängstigende Prognosen über Wirtschaftseinbrüchen. Das Jahr 2020 ist so stark mit Corona verbunden, dass wir zum Jahresende auch das Ende der Pandemie herbeisehnen, im Januar soll doch bitte ein neues, Corona-freies Jahr beginnen!
Wohin wir blicken
Der Jahresanfang ist dem römischen Gott Janus gewidmet, Januar leitet sich vom Wort Ianua ab (dt. Tür). Janus wird als Gott mit zwei Gesichtern dargestellt. Eines schaut nach vorne, das andere zurück. Er war der Gott des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, steht symbolisch für die Dualität des Lebens, den Zwiespalt, der zwischen Anfang und Ende, Zukunft und Vergangenheit liegt. Doch welches der beiden Gesichter schaut vor und welches zurück? Janus tut beides gleichzeitig. Beide Seiten sind untrennbar miteinander verbunden, weder das Gesehene auf der einen noch auf der anderen Seite kann als gut oder schlecht bezeichnet werden. Wichtiger ist das, was zwischen den beiden Gesichtern geschieht. Welche Bilder und Eindrücke nehmen wir mit auf die andere Seite? Wird das, was wir im vergangenen Jahr erlebt und erfahren haben, noch präsent sein, wenn wir in das neue Jahr blicken? Der Jahreswechsel ist ein zeitlicher, kalendarischer Übergang, willkürlich festgelegt, die Tür zum alten Jahresraum verschließt sich nicht, der Blick in beide Richtungen, nach hinten und nach vorne, bleibt frei.
Wohin wir gehen
Die Auswirkungen der Corona-Krise kann man nicht resetten. Die wirtschaftlichen Folgen werden wir noch über Jahre hinweg spüren. Auch sprachlich hat sich das Virus in uns eingenistet. Rund 1000 neue Wörter sind durch die Pandemie zu unserem Wortschatz hinzugekommen. Von „Zoom-Party“ bis „Superspreader“. Die Art, wie wir arbeiten, wie wir uns begrüßen, miteinander kommunizieren hat sich nachhaltig verändert. Wir werden das Jahr 2020 also auch noch lange nach 2021 im Blick behalten. Anders als unseren Blick können wir unsere Laufrichtung nicht ändern. Wir können nur voran schreiten, weder stehen bleiben noch zurückgehen. Vielleicht liegt das Besondere des Jahreswechsels darin, dass unbewusst in jedem von uns eine Janus-ähnliche Seite steckt, die in unseren Bräuchen und Riten rund um den Übergang ins neue Jahr ihren Ausdruck findet.
Corona-Trauma nicht verdrängen
Am Ende dieses Jahres, hinter dem wir am liebsten einfach die Tür schließen möchten, ist es wichtig, sich die Fähigkeit Janus‘ zu eigen zu machen und die Tür zum vergangenen Jahr bewusst offen zu halten. Durch die Pandemie hat die Gesellschaft ein kollektives Trauma erfahren. Das Vergangene zu verdrängen, würde dem Heilungsprozess im Weg stehen. Um das Trauma nicht ins neue Jahr mitzunehmen, sollten wir aktiv zurückschauen und die Erlebnisse und Erfahrungen des vergangenen Jahres nicht ganz aus dem Blick verlieren.