Jung und polnisch – nicht mit dieser Kirche

Seitdem das polnische Verfassungsgericht im vergangenen Monat das Abtreibungsgesetz verschärft hat, demonstrieren fast täglich hunderttausende Polinnen und Polen im ganzen Land. Ihre Proteste richten sich nicht nur gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichtes und die Regierung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes befindet sich auch die katholische Kirche im Zentrum der Protestwelle. Denn die Identität der jungen Generation Polens ist nicht mehr abhängig von der Kirche.

Polen hat ohnehin eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas, sogar der ganzen Welt. Schätzungsweise lassen rund 2.000 Polinnen jährlich eine legale Abtreibung vornehmen, die meisten von ihnen, weil der Fötus nachweislich schwer geschädigt ist. Etwa zehnmal so viele Frauen lassen eine Abtreibung illegal vornehmen. Das polnische Verfassungsgericht entschied im vergangenen Oktober, dass Schwangerschaftsabbrüche künftig nur noch erlaubt sein sollen, wenn das Leben der Mutter bedroht oder das Ungeborene im Zuge einer Vergewaltigung oder durch Inzest entstanden ist. Seitdem kommt es fast täglich im ganzen Land zu Demonstrationen, Protesten und Ausschreitungen. Was als Protest gegen die Verschärfung des Gesetzes begonnen hat, ist längst zu einer Art Revolution einer ganzen Generation geworden.

Giftige Symbiose

Die Entscheidung des Gerichts, dessen Richter alle bis auf einen von der Regierungspartei nominiert wurden, war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Den Polinnen und Polen, die auf die Straße gehen, geht es um Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Demokratie – Forderungen, welche die PiS-Regierung fortwährend ignoriert und mit Füßen tritt. Dies sorgt vor allem bei der jungen Bevölkerung für Unzufriedenheit und Frustration, und zwar nicht nur mit Blick auf die Regierung. Die nationalistische-konservative Regierungspartei, deren Name „Recht und Gerechtigkeit“ fast schon eine Verhöhnung des europäischen Demokratiegedankens ist, pflegt seit ihrer Machtübernahme 2015 eine gefährliche Symbiose mit der katholischen Kirche des Landes. Seit Jahren kämpft die Kirche für ein härteres Gesetz gegen Abtreibung und befürwortet selbstverständlich die jüngste Entscheidung. Die Mehrheit der katholischen Geistlichen begrüßt die konservative und patriotische Ideologie der Partei und unterstützt ihre diskriminierende Haltung gegenüber der Rolle der Frau, sowie die Hetze gegen Homosexuelle und Andersgläubige. Katholische Medien äußern sich offen rassistisch, frauenfeindlich und homophob. Auch zur Strategie der PiS-Partei gehört es seit eh und je, gegen Minderheiten zu hetzen. 2015 waren es die Flüchtlinge, aktuell ist es die LGBTQ–Bewegung. Auf diesen Zug springt die polnische Kirche nur zu gerne auf, nicht nur, um so direkt PiS–Wähler aus den Kirchenbänken heraus zu rekrutieren, sondern auch, um ihre eigenen Verbrechen zu verschleiern. Die Regierung wiederum legt schützend ihre Arme um die Kirche, indem sie Kritik im Keim erstickt und eine unabhängige und konsequente Aufarbeitung und Strafverfolgung sexuellen Missbrauchs durch Geistliche verhindert. Die Konsequenzen dieser Symbiose bekommen jetzt beide Lager zu spüren. Wer die Kirche angreift, greift auch die Regierung an und die Proteste gegen die Regierung projizieren sich unweigerlich auf die Kirche. In den vergangenen Wochen wurden immer wieder Gottesdienste von Demonstrierenden gestürmt, durch Sprechchöre und Proteste zum Abbruch gezwungen. Noch nie wurde die Kirche in Polen auf solche Weise angegriffen.

Katholizismus als Nationalgut

Die Kirche wurde bisher durch die polnische Tradition geschützt. Katholizismus ist in Polen tief verwurzelt und wird als ein Teil der nationalen Identität, des Polnischseins verstanden. Während des Zweiten Weltkriegs und der Auflösung Polens als Staat fungierte die Kirche maßgeblich als Identitätsgeberin. Während des kommunistischen Regimes wurde sie für viele Polen ein Gegenpol zum Staat. Nicht zuletzt hat Papst Johannes Paul II. mit seiner Berufung auf den Stuhl Petri und sein Wirken zum Zusammenbruch des Kommunismus dem Land eine Identität gegeben. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wurde Polen nicht mehr nur als Satellitenstaat der Sowjetunion wahrgenommen, sondern wegen ihres Kirchenmannes. Mit über 90 Prozent Katholiken ist Polen eines der katholischsten Länder der Welt, zumindest auf dem Papier. Denn die emotionale Bindung zur Kirche nimmt seit Jahren ab. Sexueller Missbrauch, Überheblichkeit und die konsequente Ablehnung all dessen, was nicht der kirchlichen oder polnischen Tradition entspricht, haben dazu geführt, dass sich insbesondere die junge Bevölkerung nicht mehr mit der Institution Kirche identifizieren kann. Auch wenn sie noch politische Immunität genießt, steht sie gegenwärtig gesellschaftlich am Pranger. Neusten Umfragen zufolge bewerten rund 66 Prozent der Polinnen und Polen die Kirche in ihrem Land als negativ.

Identitätskrise Polens – und der Kirche

Die jüngsten Schlagzeilen um den ehemaligen Privatsekretär Johannes Pauls II., Stanislaw Dziwisz, bringen das Fundament des polnischen Nationalkatholizismus nun zunehmend ins Wanken. Gegen Ende des Pontifikats war der frühere Erzbischof von Krakau fast so einflussreich wie der immer kränker werdende Papst selbst. Dziwisz soll nicht nur Kindesmissbrauch durch hochrangige Geistliche vertuscht und die Täter in ihren Laufbahnen unterstützt, sondern auch Bestechungsgelder angenommen haben. Die Anschuldigungen gegen die rechte Hand des Papstes werfen Schatten auf Johannes Paul II., der als Sinnbild für die polnische Kirche steht. Diese Schatten fallen daher gleichzeitig auf die gesamte katholische Kirche in Polen, sichtbar wird dies durch direkte Angriffe auf Gotteshäuser und kirchliche Residenzen. In dieser polnischen Identität können sich hunderttausende Polen nicht mehr wiederfinden, die seit Wochen unter dem Slogan „Polen ist nicht die Kirche“ demonstrieren. Das Land steht vor einer tiefen Spaltung. PiS–Parteichef Jaroslaw Kaczynski trägt zusätzlich zu einer bürgerkriegsähnlichen Stimmung bei, indem er den Demonstrierenden abspricht, Bürgerinnen zu sein und seine Anhängerinnen, die „wahren polnischen Bürger“ aufruft, die Kirche zu verteidigen. Ultrarechte Patrioten haben bereits Nationalwachen gegründet, um die Kirchen zu schützen. Was sie eigentlich zu schützen versuchen, ist die konservative Identität Polens, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kaum verändert hat – jenes Polen, in dem die von der Kirche und Regierung proklamierte Familie das höchste Gut ist, ein Land, in dem die Kirche unantastbar schalten und walten kann. In diesem Polen gibt es keinen Platz für Andersdenkende, für Homosexuelle oder Menschen nicht-katholischen Glaubens. Gegen dieses von Kirche und Regierung gezeichnete Bild von Polen richten sich die Proteste in Wahrheit. Die Polinnen und Polen haben Angst, dass die Entscheidung über das Abtreibungsgesetz zu einer grundsätzlichen Hinterfragung der Rolle der Frau führt, deren von Gott zugesprochene Funktion „die Schaffung des heimischen Kaminfeuers und die Aufgabe, viele Kinder zu gebären“ sei, wie der polnische Bildungsminister jüngst bekräftigte.

Solche Vorstellungen können aber nicht auf ewig beschützt werden. Viele junge Polinnen und Polen sind „westlich“ ausgerichtet. Die konservative Familie gilt nicht mehr als höchstes Gut. Karriere, Freunde, Selbstverwirklichung werden auch in Polen immer wichtiger. Vor allem eines scheint sich besonders bei der jüngeren Generation immer mehr herauszubilden: Sie können auch ohne die katholische Kirche polnisch sein. Die Identität des neuen, jungen Polens ist nicht mehr abhängig von der Kirche. Ob die katholische Kirche in einer neuen Identität Polens noch eine Rolle spielen kann, hängt davon ab, wie sie künftig mit Skandalen, Anschuldigungen und Protesten umgeht.