Warum tun sich viele, gerade junge Erwachsene schwer damit, sich zu ihrer nationalen Identität zu bekennen und nennen sich stattdessen „europäisch“? Der Lebensstil der Millennials passt nicht mehr in die engen Grenzen einer einzigen Nation.
Bei der Europawahl gingen rechte und europakritische Parten in zahlreichen Staaten als stärkste Parteien hervor – etwa in Großbritannien, Frankreich und Italien. Der scheinbar wachsende Einfluss Brüssels auf die nationale Politik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist ein Aspekt, mit dem Populisten europaweit auf Wählerfang gehen. Die Angst ist groß, zu viel von der eigenen nationalen Souveränität abgeben zu müssen.
Europa im Blick
(Bild von go_see auf Pixabay)
Gemeinsame Kultur?
Gleichzeitig identifizieren sich vor allem immer mehr junge Menschen mit Europa und würden sich eher als „europäisch“ anstatt zum Beispiel „deutsch“ bezeichnen – außer natürlich während großen Ballsportereignissen. Wir sind europäisch, uns verbindet alle eine europäische Kultur. Auf der Webseite der Europäischen Union steht: „Die EU ist bestrebt, das gemeinsame kulturelle Erbe Europas zu bewahren.“
Doch worin genau besteht diese gemeinsame europäische Kultur? Immerhin ist Europa, im Verständnis einer europäischen Identität – verglichen mit traditionsreichen Nationen wie Großbritannien oder Frankreich – ein relativ junges Gebilde. Wie kann man also von einer gemeinsamen Identität sprechen, wenn die Europäische Union aus 28 Nationen besteht, von denen ein Großteil selbst auf eine über lange Zeit gebildete nationale Identität zurückschaut?
Schmelztiegel Europa
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in den USA die Metapher vom Schmelztiegel populär, um die Vielfalt und das Miteinander der verschiedenen Ethnien und Kulturen zu beschreiben. Jeder wirft ein Stück seiner kulturellen Identität in den Tiegel und heraus kommt eine neue eigenständige Multi-Kulti-Kultur. Doch lässt sich dieses Konzept auch auf Europa anwenden? Schließlich fließen in der Europäische Union zahlreiche unterschiedlichen Sprachen, Traditionen und Ethnien zusammen. Die meisten der 28 Nationen können auf eine Kultur zurückblicken, die älter ist als die EU selbst. Sollten also alle Staaten ein paar Elemente ihrer Kultur in den Schmelztiegel Europa werfen – und heraus käme eine europäische Kultur?
Nein! – Denn das Bild vom Schmelztiegel Europa würde Nationalisten und Exit-Befürwortern nur in die Hände spielen. Werden Kulturen sinnbildlich in den Schmelztiegel geworfen, gehen sie für die einzelnen Nationen unwiderruflich verloren. Die Idee von einer europäischen Kultur kann langfristig nur funktionieren und überleben, wenn jedes Mitglied seine eigene nationale Identität bewahrt und sich dieser bewusst bleibt.
Europa-Salat
Daher wäre das Bild einer Salatschüssel viel passender, um die europäische Kultur zu beschreiben. Den Inhalt des Salats liefert jeder Mitgliedstaat. Anstatt die kulturellen Einflüsse einfach zusammen zu schmeißen, einzuschmelzen und sie so zu zerstören, bleibt im Europa-Salat jeder einzelne Beitrag für sich bestehen und weiterhin spür- und identifizierbar.
Erst in der Summe wird eine vollwertige und geschmackvolle Sache daraus. Deswegen kann eine europäische Kultur nur eins sein: Eine Komposition verschiedener Nuancen, deren jeweilige Geschmäcker unverzichtbar sind. Warum also tun sich so viele, gerade junge Leute schwer damit, sich zu ihrer nationalen Identität zu bekennen und nennen sich stattdessen europäisch? Schließlich steht in unserem Personalausweis nicht
Staatsangehörigkeit: Europa
Andererseits, so mögen junge Leute denken, macht es mich als Person doch interessanter, wenn ich nicht nur an einen Staat, sondern gleich an 28 gebunden bin. Nur deutsch? Das wäre zu langweilig. Ohnehin haben viele von uns einen Migrationshintergrund, ob in der ersten, zweiten oder dritten Generation. Da fällt es nicht so leicht sich deutsch zu fühlen, wenn die Eltern oder Großeltern aus der Türkei, aus Polen oder Russland kommen und die Traditionen und Sprachen zu Hause auch weiterhin gepflegt und gelebt werden.
Darüber hinaus bietet eine europäische Identität auch viel mehr Möglichkeiten. Kaum einer der Millennials kennt heute noch das stundenlange warten an den Grenzen, wenn man in den Sommerurlaub fährt, Zoll- und Passkontrollen, bewaffnete Beamte, die mit ernster Miene durch die Autoscheiben hineingucken. Wir sind an unsere Bewegungsfreiheit gewöhnt. Ein Wochenende in Madrid, ein Kurztrip nach Prag. Billigflüge und offene Grenzen machen es möglich.
Europäisch nur mit nationaler Identität
Mittlerweile verbringt fast jeder dritte deutsche Studierende im Laufe seines Studiums ein oder mehrere Semester an einer ausländischen Hochschule. Von der EU finanzierte Programme wie „ERASMUS+“ fördern diese extracurriculare Europakunde und stärken die Europaoffenheit junger Menschen. Dieses „Netzwerken“ schafft eine gemeinsame europäische Identität. Durch Urlaube, Auslandssemester, „Work and Travel“ (Arbeiten und Reisen“-Programme), Praktika und dergleichen haben vor allem junge Studierende ein Netzwerk aus internationalen Freundinnen und Freunden aufgebaut. Sprache und Herkunft spielen, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle. Dieser Lebensstil passt einfach nicht mehr in die engen Grenzen einer einzigen Nation.
Zudem haben in den letzten Jahren Begriffe wie „Nation“, „Patriotismus“ oder „Heimatland“ negative Images erhalten. Sie gehören in die Rhetorik von Populisten, die sie für ihre provokanten, gar hetzerischen Aussagen missbrauchen. Von anscheinend so rechten Begriffen will man sich klar abgrenzen. Wir lieben die offenen Grenzen und die damit entstandenen Freiheiten und Chancen. Ein Großteil von uns kennt es gar nicht anders, so ganz ohne die EU. Natürlich sind wir alle europäisch. Doch das können wir nur sein, weil wir eben auch deutsch, französisch, britisch, polnisch oder sonst etwas sind. Wir dürfen uns unsere nationalen Identitäten nicht durch den Missbrauch derselben kaputt machen lassen. Ohne die einzelnen 28 nationalen Identitäten kann es keine europäische Kultur und keine europäische Identität geben.
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