England, ein kleines Land mit einem großen Selbstbewusstsein. Voller Stolz blicken die Briten auf ihre lange Geschichte zurück. Generell scheinen die Briten lieber in die Vergangenheit zu schauen als in die Zukunft. Beim Brexit spielen Englands große Geschichte und einstige Macht anscheinend eine viel wichtigere Rolle als die ungewisse Zukunft, in die das Land gerade hineinsteuert.
Verblasster Glanz
Immer wenn die politische oder wirtschaftliche Situation in Großbritannien wenig vielversprechend zu sein scheinen, werden die Briten nostalgisch und schwärmen von der Blütezeit ihres Landes Anfang des 20. Jahrhunderts. Film- und Fernsehformate, die sich besonders in Krisenzeiten großer Beliebtheit erfreuen, präsentieren eine idealisierte Version des British Empire. Sie bieten Raum für eine Flucht vor der Realität und eine Rückbesinnung auf eine gemeinsame nationale Identität. Wenn die Zukunft ungewiss erscheint, ist es viel leichter und beruhigender, sich in die Vergangenheit zu flüchten, die ein Gefühl von Vertrautheit und Identität vermittelt. Daher ist es auch wenig überraschend, dass die Entscheidung, aus der EU auszutreten, überwiegend von alten Leuten auf dem Land gefällt wurde. Sie haben die letzten glanzvollen Tage des Britischen Weltreichs noch miterlebt. Nicht die Jungen in der Stadt haben für den Brexit gestimmt. Für sie sind Multikulti und offene Grenzen genauso britisch wie die Milch im Tee. Schon während des Referendums schwebte die stilisierte Idee von Englands vergangenem Glanz in den Köpfen der Befürworter, von Zeiten, in denen ein Viertel der Weltbevölkerung unter britischer Krone stand, aber alle Fremden schön brav in ihren Kolonien lebten. Was die Leute an die Wahlurnen trieb, war der Wunsch, die vertraute, scheinbar stabile Ordnung wiederherzustellen. Kaum einer war sich über die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen bewusst, die ein Austritt aus der Europäischen Union bedeuten würde. Denn für die Brexit-Befürworter ist Englands Mitgliedschaft nur eins:
Ein gescheiterter Versuch
Großbritanniens Idee von der Europäischen Union ist nicht aufgegangen. Als die Briten 1973, nach zwei abgelehnten Anträgen, endlich der Europäischen Union beitraten, titelten britische Medien „Jetzt können wir Europa anführen“ oder „eine einmalige Möglichkeit für eine Nation, die ein Empire verloren hat, nun einen Kontinent zu gewinnen.“ So wie die Idee, Großbritannien solle Europa führen, mit der Nostalgie für das Empire verknüpft war, so steht auch der bevorstehende Austritt in dieser Tradition. Das Empire – oder vielmehr die Idee, die davon kulturell konstruiert wird – ist ein Symbol von Großbritanniens Stärke, der Fähigkeit, sich als „Little Britain“ auf weltpolitischer Ebene zu behaupten.
Mittlerweile haben jedoch andere Länder Großbritannien den Rang abgelaufen. In Europa spielen längst Deutschland und Frankreich die erste Geige. Die einstige Kolonialmacht fühlt sich zunehmend in die Ecke gedrängt und von einer eigenen Kolonisierung bedroht. Die scheinbar einzige logische Reaktion, um einer Kolonisierung Großbritanniens durch die EU zu entkommen, war daher das „Yes“ für den Brexit. Viele der Befürworter sehen den Austritt als Chance, die Dynamik, mit der Großbritannien einst groß geworden ist, wieder zu entdecken. Bisher bietet der Brexit jedoch nur
Eine ungewisse Zukunft
Denn nicht nur das Land ist über die Frage zum Verbleib in der Europäischen Union nach wie vor gespalten, auch das Parlament kommt auf keinen gemeinsamen Nenner. Am Dienstagabend hat das britische Unterhaus das von Theresa May und der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen mit eindeutiger Mehrheit abgelehnt. Im Parlament scheint keiner so recht zu wissen, was genau er oder sie politisch und wirtschaftlich vom Brexit erwartet. Der ausgehandelte Vertrag würde Großbritannien zu sehr an die EU binden, meinen zahlreiche Gegner. Hardliner befürchten, dass Großbritannien zu einem Vasallenstaat der EU wird. Deswegen mimt man lieber das trotzige Kind, das seinen Willen nicht bekommt, und nimmt einen harten Brexit in Kauf. Verwöhnt durch die Sonderstellung, die der Staat als EU-Mitglied schon immer hatte, will Großbritannien seine Macht demonstrieren, indem es versucht, die EU nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Die Entscheidung vom Dienstag steigert die Ungewissheit über einen geregelten oder ungeregelten Ausstieg. Ein harter Brexit wäre weder im Interesse Europas noch Großbritanniens. Im Unterhaus scheint man zu hoffen, dass die EU in letzter Sekunde doch noch einknickt und Großbritannien bei Nachverhandlungen weiter entgegen kommt. Aktuell bleibt es sowohl für die Europäische Union, als auch für das britische Parlament selbst völlig unklar, was Großbritannien eigentlich will. In einem Punkt scheinen sich die Brexit-Befürworter jedoch einig zu sein: Großbritannien soll wieder zum alten Glanz finden.