Putins Herrschaft scheint in westlichen wie wohl in russischen Augen stabil und in sich gefestigt, so als wäre die Sowjetunion wieder auferstanden. Aber eine Wagnergruppe konnte erst 200 km vor Moskau zur Umkehr genötigt werden. Die Ukraine ist nicht nur wegen westlicher Waffen Putins Russland überlegen.
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Auf den ersten Blick trifft die Einschätzung des russischen Machthabers zu: Er hat das Sagen über ein Land mit riesigen Rohstoffvorkommen bis in den letzten Gerichtssaal, er kann Kriege führen und seine Gegner ins Gefängnis bringen. Er hat Macht und setzt sie ein. Aber Macht hat man nicht aus sich heraus, sondern weil man sie eingeräumt bekommt. So wie die Russen Putin diese Macht einräumen, muss er den Ukrainern die Oberhand geben. Drei der vielen Schwachstellen von Putins System seien genannt:
1. Warten auf Befehl
Die russischen Militärs handeln nur auf Befehl. Wenn kein Befehl vorliegt, warten sie. Als Prigoschin seine Söldner losschicken wollte, rührte sich niemand. Noch nicht einmal ein General ergriff die Initiative, seine Panzer in Bewegung zu setzen oder wenigstens mit dem Aufrührer in Kontakt zu treten. Der belarussische Geheimdienst stellte für seinen Präsidenten eine Telefonverbindung her. Man kann dies so interpretieren, dass Schoigu oder Putin selbst keinen Befehl gegeben haben. Im russischen Militär scheint die eingefahrene Reaktion zu sein, zu warten, bis ein Befehl kommt. Dieses Muster gilt wahrscheinlich auch für die ganze Gesellschaft. Die Russen erwarten einen, der sagt, wo es langgeht. Wenn dem Oberbefehlshaber die Ideen für den Krieg ausgehen, dann gerät der Angreifer in die Defensive. Das beantwortet die Frage, wieso es möglich ist, dass die Ukraine überhaupt angreifen kann. In deren Befehlsmuster kennt auf jeder Ebene der Kommandeure das Ziel. Deshalb kann er selbständig handeln, auch wenn die Verbindung zum Oberbefehlshaber abgeschnitten ist. Putin ist nicht nur Oberbefehlshaber, sondern auch als Präsident der einzige Kommandogeber. Deshalb geht es wohl im russischen Muster nicht nur um Ideen auf dem Schlachtfeld, sondern auch für Wirtschaft und Kultur. Wie soll Russland nach dem Krieg nicht in Lethargie verfallen? Der Mann mit dem fahlen, starren Gesicht hat nicht mehr die Ausstrahlung desjenigen, der sich mit nacktem, muskulösem Oberkörper zeigte. Er hat wohl auch keine Idee für Russland, als seine Bürger immer enger an die Kandare zu nehmen.
2. Verfolgung der Andersdenkenden
Das Land entwickelt sich in eine immer größere Kontrolle, in die Verfolgung Andersdenkender und verliert dann eine kreative Elite. 300.000 Russen arbeiten aktuell für die Nato-Staaten. Konnte die Sowjetunion noch eigene Industrien aufbauen, unabhängig von dem Import hochwertiger Technologie zum Mond fliegen, hat Putin seine Wirtschaft und die Staatseinnahmen auf den Export von Gas und Nickel gestellt. Das Bruttosozialprodukt Russlands rangiert hinter dem von Italien. Alle Großmachtambitionen bleiben ohne eine deutliche Erhöhung der Wirtschaftskraft Illusion. Anders als die Sowjetmacht ist auch das personelle Reservoir Putins viel zu eng.
3. Exklusiver Regierungszirkel
Die Sowjetunion wurde von einer Partei regiert, die Russische Föderation von Leuten, die mit Putin befreundet sein müssen. Könnte man noch unter Breschnew in die Partei eintreten und sich nach oben arbeiten, muss man unter Putin früher mal, als der Präsident noch nicht so abgeschirmt war, mit ihm in Kontakt gekommen sein. Dieser Kreis müsste neue Leute integrieren, stattdessen wird er durch mysteriöse Todesfälle immer kleiner. Wie schon der Adel unter den Zaren sind diese Leute lieber im Westen. Dahin haben sie auch ihr Geld geschafft. Schon Jesus stellte nüchtern fest, dass des Menschen Herz da ist, wo sein Schatz liegt. Mit diesen Leuten wird Russland sich nicht aus der Demütigung herauswinden, in die es durch seine Kriegsführung geschliddert ist, eine Militäraktion, die die Weltöffentlichkeit mit ihren Satelliten verfolgt hat.
Russland scheitert an der Macht Putins
Die Analyse zeigt, wie das russische System einem Putin einen Platz unbegrenzter Befehlsgewalt, auch über die Justiz gegeben hat. Bereits ein im Verhältnis viel kleineres Land kann diesem Riesenreich standhalten. Was der Krieg offengelegt hat, war in der bei Putin vermuteten Macht lange als riesige Schwäche angelegt. Wie labil das Land tatsächlich ist, wird sich bei seinem Abtreten zeigen. Das Sowjetsystem hat die Nachfolge Stalins regeln können, ohne dass es zerbrochen ist. Chruschtschow konnte zum Rücktritt gebracht werden, ohne dass er umgebracht werden oder man wie bei Breschnew auf seinen Tod warten musste. Letzterer hat mit dem Afghanistankrieg 1970-79 das Ende der Sowjetunion eingeleitet.
Der Westen hat auch einiges aufzuarbeiten
Der Überfall auf die Ukraine war ohne die wirtschaftliche Kooperation nicht möglich. Der Westen hätte wissen müssen, dass man eine Militärmacht nicht hochpäppelt, ohne dafür teuer zu zahlen. Wenn der Westen nicht anfängt, sich über Russland und seine Bürger Gedanken zu machen, steht der nächste Krieg an. Ein Frieden wie Versailles produziert mit großer Wahrscheinlichkeit den nächsten Ukrainekrieg. Der Hass zwischen Ukrainern und Russen hält die Kriegsbereitschaft wach. Wie das Land allerdings wirklich funktioniert, welche gesellschaftliche Perspektive die Russen entwickeln, warum sie den Krieg und das Embargo überhaupt durchhalten, kann mit westlichen Kategorien nicht erklärt werden. Um Russland zu verstehen, sind wir auf Russen und Russinnen angewiesen, die uns das erklären.