Wenn der Körper langsam schwächer wird: Leben mit Neuropathie

Unsere Redakteurin Lena Herrmann lebt seit ihrem 13. Lebensjahr mit Hereditäre-motorisch-sensible-Neuropathie. Diese Erkrankung des Nervensystems beeinträchtigt ihre Mobilität, hindert sie aber nicht daran, ihr Leben als junge Erwachsene zu genießen. “Die Krankheit gehört zu mir”, schreibt Lena in einem persönlichen Bericht über die Erfahrung, mit der Schwäche des eigenen Körpers umzugehen, wie sie sich davon nicht einschüchtern lässt und wie sie mitleidigen Blicken begegnet.

Silvia auf Pixabay

Stell dir vor, du gehst spazieren und bei jedem Schritt musst du dich konzentrieren. Du achtest auf die kleinen Steinchen auf dem Weg, auf Schlaglöcher und andere Unebenheiten im Boden. Andere Menschen überholen dich, weil du nicht so schnell vorankommst. Du konzentrierst dich auf deine Beine, kannst die Füße nicht heben und deshalb fallen sie wie ein nasser Sack, Schritt für Schritt. Bist du nicht konzentriert, fällst du hin. Du verlierst das Gleichgewicht, knickst um oder stolperst über deine eigenen Füße. Kurz mal beim Laufen das Handy aus der Tasche geholt, um Nachrichten zu checken, schon liegst du flach auf dem Bauch und das Handy hat wieder ein paar neue Kratzer. Das kostet dich in deinem Alltag doppelt so viel Energie, du bist oft erschöpft und musst dich ausruhen. Das sind nur einige Symptome einer angeborenen Erkrankung des Nervensystems namens Hereditäre-motorisch-sensible-Neuropathie (kurz: HMSN).

Vererbliche motorisch sensible Neuropathie

HMSN ist eine Erkrankung des Nervensystems, bei der die Nervenfasern langsam verenden. Durch die Erkrankung baut sich die äußere Schicht der Nerven langsam ab, weshalb Signale vom Gehirn nicht mehr richtig weitergeleitet werden können. Vor allem die peripheren Nerven sind betroffen, also alle Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks liegen. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist bei dieser Erkrankung meist um die Hälfte reduziert bis fast gar nicht vorhanden, wodurch Reflexe kaum auslösbar sind. Durch das Absterben der Nerven verkümmern die Muskeln langsam und lassen sich auch nicht wiederherstellen. Gleichgewichtsstörungen, Fußhebeschwäche mit Hohlfußbildung, Nervenschmerzen und Probleme mit der Feinmotorik sind weitere Symptome, die daraus resultieren. Auch Taubheitsgefühle und Empfindungsstörungen, vor allem in den Händen und Füßen, stehen an der Tagesordnung. Der Verlauf und die Schwere der Erkrankung ist bei jedem Betroffenen anders und kann nicht vorbestimmt werden. Einige müssen sich schon früh mit Hilfsmitteln wie Prothesen und Gehhilfen anfreunden oder sitzen sogar im Rollstuhl. Viele andere Leute wissen aber auch nicht, dass sie an HMSN erkrankt sind, da auch Ärzte oftmals diese Erkrankung nicht erkennen. Da HMSN eine reine vererbbare Erkrankung ist, wird oft erst ein Erkrankter in der Familie diagnostiziert und darauf folgen dann weitere Familienmitglieder. Bei einem milden Verlauf besteht auch die Möglichkeit, dass niemals eine Diagnose gestellt wird, da die Symptome erst im fortgeschrittenen Alter deutlich werden. Der gesamte Prozess der Krankheit kann nicht aufgehalten werden und zum aktuellen Zeitpunkt gibt es nichts, was die Betroffenen heilen kann. Vor allem aber mit Physiotherapie und viel Bewegung kann die Muskelkraft so lange wie möglich aufrechterhalten werden. Auch Fußkorrekturen, mit denen das Laufen verbessert werden soll, können Betroffenen helfen. Obwohl HMSN schon vor über 100 Jahren entdeckt worden ist, ist sie noch unbekannt. Leider ist sie aber nicht selten und man rechnet mit einem Erkrankten auf 2500 Einwohner. Somit liegt statistisch gesehen die Zahl der Erkrankten bei 0,4% der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Demnach gibt es in unserem Land ca. 32.000 betroffene Personen. Ich bin eine davon.

Aufstehen und weitermachen

Erst neulich bin ich mit einer Freundin in den Urlaub geflogen und am Ankunftsflughafen war ich überwältigt von all den Eindrücken. Mit dem Rucksack für den Backpacking-Ausflug auf dem Rücken lief ich in Richtung Ausgang. Hinter den Schranken standen viele Menschen, die mit Schildern auf die Ankömmlinge warteten. Ich blickte durch die Menschenmenge und dann passierte es auch schon gleich. Beim Gehen nicht konzentriert gewesen, was folgt ist eine flache Bauchlage, mit dem Gesicht zuerst in Richtung Boden. Mit den Händen konnte ich meinen Sturz noch rechtzeitig abdämpfen. Ich schaute zu meiner Freundin hoch und schon standen einige hilfsbereite Menschen um mich herum. Wir lachten, während alle Menschen um uns besorgt auf mich schauten. Ich stand auf, wir bedankten uns für die Hilfe und gingen lachend weiter, als wäre nichts passiert. Das ist meine Art, wie ich damit umgehe: Aufstehen und weitermachen. Für viele Menschen wirkt das vielleicht befremdlich oder seltsam. Aber für mich ist das Alltag. Wenn ich mich nach jedem Sturz selbst bemitleiden würde, dann komme ich aus dem Selbstmitleid nie wieder raus. Solche Situationen erlebe ich häufig und ich will dafür nicht bemitleidet werden oder mich darüber ärgern. Das richtige Fallen habe ich mittlerweile gelernt, sodass es für Außenstehende meist schlimmer aussieht als es eigentlich ist. Natürlich habe ich deswegen manchmal blutende Hände, blaue Flecken oder Schmerzen. Und das ist manchmal auch ziemlich deprimierend. Doch was bleibt mir anderes übrig, als meine Erkrankung zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen?

Einfach freundlich lächeln

Was mich aber zum Nachdenken bringt, ist, wie die Gesellschaft auf meine Erkrankung reagiert. Ich treffe oft auf fragende und bemitleidende Blicke. Durch die Fußhebeschwäche ist mein Gangbild deutlich anders als bei gesunden Menschen und das ist für Fremde natürlich sichtbar. Oft erlebe ich starrende Blicke auf meine Beine und Füße, gepaart mit fragenden und mitleidenden Gesichtsausdrücken. Das erlebe ich so häufig, dass mich das eine ganze Zeit richtig genervt hat. Doch die Menschen können nicht wissen, was ich habe und wie ich damit umgehe. Natürlich verletzt es mich manchmal, da viele erste Blicke nur auf die Füße gerichtet sind und selten in die Augen. In den meisten Fällen lächle ich dann einfach freundlich. Dann folgt auch manchmal ein freundlicher und irgendwie erleichterter Blick zurück, weil die Menschen sehen, dass es mir gut geht. Ich würde mir gerne wünschen, dass das öfter passiert. Doch in den meisten Fällen versuche ich, darüber hinwegzusehen, denn sie wissen es nicht besser. Auch meinen Freunden fallen diese Blicke auf. Oft laufe ich dann absichtlich noch ein bisschen krummer und wir machen uns darüber lustig. Ansonsten spielt meine Erkrankung in meinem Freundeskreis keine Rolle. Wenn ich falle, wissen sie, dass nichts Schlimmeres passiert ist und ich wieder aufstehe. Auch ist es für sie normal, dass ich manchmal Hilfe benötige, wenn der Untergrund sehr uneben ist oder ich das Kleingeld nicht aufheben kann. Natürlich sprechen wir auch über meine Erkrankung; anfangs musste ich die Erkrankung erstmal allen erklären. Aber ansonsten fühle ich mich unter meinen Freunden wie ein ganz normaler Mensch und kann meine Erkrankung auch oft für Stunden vergessen.

HMSN gehört zu mir, das bin ich

Meine Zukunftsaussichten sind nicht vorhersehbar. Ich weiß nicht, ob und wann ich Hilfsmittel benötigen werde. Ich weiß aber, dass sich meine Muskeln in den Beinen, Armen, Füßen und Händen weiter abbauen werden. Lebenswichtige Organe sind glücklicherweise nicht betroffen, weshalb ich auch nicht daran sterben werde. In meinem 13. Lebensjahr wurde HMSN bei mir diagnostiziert und deshalb habe ich schon ziemlich früh gelernt, meine Erkrankung zu akzeptieren. Ich kann nicht ändern, dass ich diese Erkrankung habe und das will ich auch gar nicht. Die HMSN stellt mich täglich vor Herausforderungen, die für andere Menschen nicht sichtbar sind. Ich darf mich nicht überanstrengen, muss mich gleichzeitig aber genug bewegen, um meine Muskeln beizubehalten. Wenn ich meinen Körper doch überanstrengt habe, steht er manchmal Kopf und braucht eine Pause. Doch im Großen und Ganzen genieße ich die Ruhephasen zuhause. Ich bin gerne allein und ruhe mich dann auch gerne auf der Couch aus. Denn daraus kann ich die nötige Energie und Kreativität für meinen Alltag schöpfen. Über viele alltägliche Situationen denke ich zweimal nach, bevor ich sie angehe, wie bei jedem Schritt, den ich laufe. Das lässt mich die Welt um mich herum viel langsamer und bewusster wahrnehmen und reflektieren. Das sind Eigenschaften, die ich mir ohne diese Erkrankung wahrscheinlich nicht so früh angeeignet hätte. Vor diesem Hintergrund bin ich in gewisser Weise auch dankbar für meine Erkrankung, weil sie mir eine andere Sicht auf die Welt ermöglicht. Ich versuche trotz all der Symptome und negativen Aspekte auch positive Dinge daraus zu gewinnen. Denn die HMSN gehört zu mir, das bin ich.