Die Krisen, vor die wir als Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahren gestellt wurden, scheinen nicht abzubrechen. Die Coronakrise ist immer noch nicht überwunden. Die Flutkatastrophe im vergangenen Sommer hat uns die Auswirkungen des Klimawandels auch bei uns in Deutschland brutal vor Augen geführt. Und jetzt herrscht auch noch mitten in Europa Krieg. Krisen stellen unser Weltbild infrage. Sie führen uns die menschliche Verletzlichkeit und Schwäche vor Augen, zeigen uns, dass wir nicht immer alles unter Kontrolle haben. Religionen könnten diese Spanne wieder füllen, Orientierung und Sicherheit geben.
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Während einer Krise fühle ich mich ohnmächtig. Es geschieht etwas Unvorhergesehenes, auf das ich keinen Einfluss habe, dem ich mich unterwerfen muss. Vor allem bei globalen Krisen werden diese Gefühle noch verstärkt. Ich kann selbst nicht eingreifen, muss darauf bauen, dass Politiker_innen und Verantwortliche die richtigen Entscheidungen treffen. So bleibt mir meist nur die Hoffnung, dass sich alles irgendwie zum Guten wendet. Die Religion, beispielsweise der Besuch von Gottesdiensten, bietet mir einen Weg mit dieser enttäuschenden und beängstigenden Wirklichkeit umzugehen, sie zu verstehen. Das Bewusstsein, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ein gemeinsames Weltbild, die gleichen Werte teilt, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität.
Individualisierung der Religion
Tatsächlich erleben Religionen in einigen Teilen der Welt einen Aufschwung. So breiten sich in den USA evangelikale Freikirchen immer weiter aus, während sich in Deutschland institutionell geprägte Religionen auf dem Rückzug befinden. Im Jahr 2020 gehörten noch 42 Millionen Deutsche einer der beiden großen christlichen Kirchen an, fünf Millionen dem Islam. Weitere knapp fünf Millionen waren Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft. Der Rückgang an Mitgliederzahlen bei den christlichen Kirchen in Deutschland bedeutet allerdings nicht, dass auch das Bedürfnis nach Religion und Spiritualität rückläufig ist. So geht der Trend hin zur Individualisierung der Religion, während religiöse Institutionen wie die Kirchen für den Einzelnen bedeutungsloser werden und im religiösen Leben vieler Gläubiger immer weniger Raum einnehmen. Denn die Sinnsuche des Menschen geht ständig weiter, Pilgerfahrten und Klosteraufenthalte sind bereits seit einigen Jahren im Trend. Gläubige und heilige Orte dienen als Inspiration für die eigene religiöse Erfahrung. Schließlich greifen Religionen Themen auf, die für Menschen von existenzieller Bedeutung sind. Leben und Tod, die Natur, zwischenmenschliche Verhaltensanweisungen und die Verbindung zur Transzendentalität: Religionen wirken erklärend und vor allem in Krisenzeiten stützend. Deswegen kann von einem Verschwinden der Religionen keine Rede sei, sie verändern sich nur.
Konsumartikel als Ersatzgötter
„Religionen sind die Antwort auf eine unverständliche und grausame Welt“, hat der britische Physiker Stephen Hawking gesagt. Naturwissenschaftliche und medizinische Erkenntnisse vermitteln aktuell allerdings mehr Sicherheit als die Religionen. So wurde in der Corona-Krise Virologen Gehör geschenkt, während führende Religionsvertreter deren Aussagen nur unterstützen, jedoch selber keine zufriedenstellenden Erklärungen oder Strategien liefern konnten. Religionen können zwar keinen Impfstoff liefern, sie decken jedoch die sozialen Aspekte der Pandemie ab, die nicht weniger wichtig sind als die medizinischen: Rücksicht auf die Risikogruppen, Hilfe für die Schwachen, Beistand für die Isolierten. Die Ansprüche der Menschen an Religionen haben sich verändert. Durch die Parallelwelt des Internets und der ständigen Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken scheint der Mensch nur noch auf sich angewiesen und auf sich selbst zu achten. Man kann Halt in anderen Ideen, Gedanken und Aktivitäten finden: Konsumartikel, ob Lebensmittel oder Kleidung, das Smartphone oder ein Aufenthalt in der Natur können eine ähnliche Wirkung haben wie die Ausübung einer Religion. Sie beruhigen, bewirken Glücksgefühle. Religion wird dadurch immer mehr in den privaten Raum verlagert. Sie soll die eigenen Bedürfnisse erfüllen, sie soll Spaß machen. Auf diese individuellen Bedürfnisse zurechtgeschnitten, werden Aspekte unterschiedlicher Glaubensrichtungen herausgesucht, mit Elementen anderer philosophischer und spiritueller Ideologien vereint und ein eigenes Weltbild geschaffen.
Religiöse Modeerscheinungen
Zwar gibt es immer Religionen, die besonders im Trend liegen, zuletzt zog Buddha in deutsche Haushalte ein. Ich sah die Figuren und Statuen in den Regalen von Bekannten stehen und Bilder an Wänden hängen, weil sie “besonders” aussahen, die Religion und Bedeutung dahinter blieb jedoch in meinem Umfeld leer, schlichtweg uninteressant. Dies ist ein Beispiel für eine allgemeine Gefahr: Religionen laufen Gefahr, ausgehöhlt zu werden, da nur Fragmente herausgenommen werden. Teile, die einem nicht zusagen, können ausgespart werden. Religiöse Institutionen, bei uns hauptsächlich die Kirchen, sind zwar weltweit mit die wichtigsten Glaubensvermittler, bei uns jedoch mittlerweile eher für ihr caritatives Engagement gesellschaftlich anerkannt. Für die Glaubensausübung benötigen viele keine Kirchen. Die Religion als Privatsache bietet zwar viele Chancen, sie kann eben auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden und ist damit ein Retter und Hoffnungsbringer in schweren Zeiten. Durch die Individualisierung, Vermischung und Verdrängung von Inhalten geht aber die ursprüngliche Bedeutung der Glaubensinhalte verloren, ebenso ein zentraler Inhalt vieler Religionen: Gemeinschaft leben.