Heilsamer Realitätsschock

„Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken.“ So heißt es knapp und leicht plattitüdenhaft im Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP. Mehr aber auch nicht. Ein Kommentar zur zukünftigen Rolle der Religion nach dem bevorstehenden Regierungswechsel.

Michael Mürling auf Pixabay

Für die Kirchen löste der Blick in den Koalitionsvertrag einen kleinen Schock aus. „Wenn Sport mehr Raum einnimmt als Religion“ diese Aussage von Pater Nikodemus Schnabel zeigt die Irritation von Kirchenvertretern passend auf. Gleichzeitig macht diese Irritation deutlich, dass die Realität noch nicht überall in der (katholischen) Kirche angekommen ist. Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirche hat in den letzten Jahren immer weiter nachgelassen. Auch in der Politik ist der Stellenwert von Kirchen im Koalitionsvertrag ein genaues Spiegelbild der gesellschaftlichen Realität. Dies mag ein schmerzlicher „Realitätsschock“ für die Kirchen sein, kann aber auch „heilsam“ und ein Anstoß für dringend notwendige Reformen sein.

Denn auch wenn sich 84 Prozent der Bevölkerung zu einer Religion bekennt, heißt dies noch nicht, dass Religion für die Menschen auch einen hohen Stellenwert hat. Es schützt auch nicht davor, dass die Politik kirchliche Sonderwege wie beim Arbeitsrecht im Koalitionsvertrag in Frage stellt und dem staatlichen Arbeitsrecht angleichen will. Ganz so überraschend kommt die Abstufung der Kirchen dabei übrigens nicht. Bereits in den letzten Jahren ist zum Beispiel ein deutlicher Rückgang in der Berichterstattung über Kirche in nicht kirchlichen Medien spürbar. Auch ganz konkret für Gemeinden, Pfarreien und Verbände zum Beispiel in Tageszeitungen. Dort vollzogen die Redaktionen bereits die Anpassung an den geringeren Stellenwert von Kirche, den jetzt auch der Koalitionsvertrag 2021-2025 nachvollzieht.

Zu wenig Vertrauen, zu wenig Präsenz

Bei der diesjährigen Tagung „Kirche im Web“ hatte der twitternde Politiker Ruprecht Polenz bereits kritisiert, dass die Kirchen – gerade auch während der Corona - Pandemie – zu wenig zu den Menschen durchgedrungen oder in den Medien vorhanden waren. Im März 2021 gab es dazu auch viel Widerspruch, unter anderem aus der Deutschen Bischofskonferenz. Doch trotz aller Bemühungen kirchlicher Medienschaffenden wird aber jetzt deutlich: Der Vertrauensverlust von Gesellschaft, Medien und Politik in die Kirche sitzt tief, nicht nur in Deutschland. Die Kirchen müssen stattdessen wieder verdeutlichen, welchen Stellenwert sie z.B. in ethischen Fragen zum gesellschaftlichen Dialog und was sie im aktuellen politischen Diskurs beitragen können. Dies verdeutlicht auch Pater Nikodemus Schnabel und sieht es als „große Chance“, wenn es den Religionsgemeinschaften gelingt zu zeigen, „dass sie mehr als Wertevermittlungsangenturen“ sind.

Dies wird ein langer Weg, aber er ist „alternativlos“ wie die noch amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel gerne betonte. Das Vertrauen zurückzugewinnen, kann nur durch Transparenz und eine Offenheit für einen ernsthaften Dialog erfolgen. Dies bedeutet auch sich als Kirche verletzbar und angreifbar zu machen. Zu lange stand das Credo „die Kirche schützen wollen“. Dies verdeutlichte auch Weihbischof Rolf Steinhäuser kürzlich bei einem Bußgottesdienst zum sexuellen Missbrauch in der Kirche. Der Apostolische Administrator für das Erzbistums Köln bekannte dabei, dass er selber versucht habe die Kirche zu schützen und dabei die Betroffenen nicht im Blick behalten habe. Genau so kann die (katholische) Kirche wieder Vertrauen zurückgewinnen: Durch eine Neu-Ausrichtung auf alle Menschen – nicht nur Kirchensteuerzahlende – und vor allem durch ein Handeln, dass den ethischen und moralischen Werten der Kirchen auch im Alltag wirklich Rechnung trägt. Nicht in Predigten oder auf dem Papier. Dann wird auch die Politik den Kirchen wieder einen höheren Stellenwert beimessen, der ihnen aktuell leider nicht zusteht.

Zum Weiterlesen:
Zum Verstehen und Mitreden über den Umbau der Energiewirtschaft haben 4 Autoren leicht lesbar zusammengefasst, was jeder Bundesbürger an Wissen braucht, um die Politik beurteilen zu kennen. Wer das schnell lesbare Buch zur Seite legt, stellt fest, wie blamabel wenig die letzten Regierungen zustande gebracht hat. Dazu gibt es einen Beitrag bei explizit.net

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