Bergkarabach: Gegen einen Feind, den sie nicht hassen

Gegen die Aserbaidschaner hätten sie nichts, erzählten Soldaten unserem Redakteur Felix Nau in Bergkarabach im Jahr 2017 beim gemeinsamen Bier. Man kenne sie ja nicht persönlich. Das hatte ihm damals Hoffnung gemacht. Jetzt müsse er sich die jungen Männer an der Front vorstellen, kämpfend gegen einen Feind, den sie weder kennen noch hassen. Die eigentlich betroffenen Parteien in dem Konflikt werden Opfer geopolitischer Überlegungen.


Plakatwand zum 25. Jahrestag der Unabhängigkeit in Schuscha (F. Nau/kath.de)

Als ich die Meldung las, durchfuhr mich ein Schreck: Ilham Alijew, der Präsident Aserbaidschans meldete, dass seine Truppen Schuscha einnehmen konnten. Die Stadt liegt nur 15 Kilometer von Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs entfernt (oder wie es die dort lebenden Armenier offiziell nennen: Arzach). Und zwar auf einer Anhöhe. Mit entsprechender Artillerie ist es leicht, Stepanakert unter Beschuss zu nehmen.

Kriegsgebiet ohne Krieg

Sofort suchte ich meine Reisebilder aus dem Jahr 2017 heraus. Während einer Rundreise durch die drei Staaten südlich des Kaukasus – Aserbaidschan, Georgien und Armenien – hatte ich damals auch das kleine Bergkarabach besucht. Als Abschluss der Reise, versteht sich: Für die Regierung in Baku war der Trip auch damals schon ein illegaler Grenzübertritt. Wer einmal nach Bergkarabach gereist ist, bekommt danach nie wieder ein Visum für Aserbaidschan.

Abstrakt war uns damals bewusst, dass es sich bei Bergkarabach um eine umkämpfte Region handelt. Wir hatten uns mit der Geschichte des Gebiets vertraut gemacht, wir wussten, dass es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes gab. Ein Jahr zuvor war der Konflikt bereits so heftig eskaliert, wie seit Ende des Krieges im Jahr 1994 nicht mehr. Auch das wussten wir. Bei den Kämpfen starben 2016 zwischen 500 und 2.000 Menschen. Doch die Kampfhandlungen hatten alle weit von Stepanakert und Schuscha entfernt stattgefunden, im Grenzgebiet. Mitten im Herzen des Landes hielten wir die Lage für sicher.

Militarisierte Gesellschaft

Tatsächlich blieb es während unseres kurzen Aufenthaltes ruhig. Die Bilder von Stepanakert nach dem Beschuss durch die aserbaidschanische Armee in diesem Jahr zeigen dennoch, dass unsere Einschätzung falsch war. Friedlich wirkte Bergkarabach auch damals nicht. Der Krieg war überall zu spüren: Zerstörte Häuser in Schuscha, die niemand nach dem Krieg wiederaufgebaut hatte, Soldaten auf den Straßen, Plakatwände zum 25. Unabhängigkeitstag, auf denen neben jubelnden Menschen mit Fähnchen vor allem Panzer und Schützengräben zu sehen waren.

Obwohl die Gesellschaft in hohem Maße militarisiert ist, waren die Menschen in Bergkarabach überaus freundlich. In vielen anderen ehemaligen Teilen der Sowjetunion hatte ich zuvor schlechte Erfahrungen mit korrupten Beamten gemacht. Nicht so in Bergkarabach: Polizisten überschlugen sich regelrecht in ihrem Bemühen, uns zu helfen. Ein etwas schlechtes Gewissen hatte ich sogar, als wir an einem Sonntagmorgen im Außenministerium unser Visum holen wollten, denn man muss Visa im Land selbst holen und bei der Ausreise vorzeigen, da es keine Botschaften im Ausland gibt. Der dortige Polizist wies uns darauf hin, dass das Ministerium sonntags geschlossen sei, rief dann aber einen Beamten an, der eine halbe Stunde später kam und uns mit größter Freundlichkeit die Visa ausstellte. Ob wir das Visum wirklich in unseren Pass kleben wollten, fragte er mehrmals. Wir könnten dann nie wieder nach Aserbaidschan.

Demokratie vs. Autokratie

Meine Beobachtungen sind wahrscheinlich nicht repräsentativ. Nur weil man sich den wenigen Ausländern gegenüber freundlich verhält, heißt das noch lange nicht, dass es im Land keine Korruption gibt. Allerdings gilt Bergkarabach, besonders nach post-sowjetischen Standards, geradezu als Musterdemokratie. Immer wieder werden Wahlen dort auch von westlichen Beobachtern, etwa EU-Parlamentariern, überwacht. Bisher gab es nie etwas zu beanstanden. Ganz im Gegensatz zu Aserbaidschan, zu dem das Gebiet völkerrechtlich gehört: Ilham Alijew herrscht hier seit dem Tod seines Vaters im Jahr 2003 bereits in zweiter Generation. Auf dem Demokratieindex der britischen Zeitschrift „The Economist“ liegt Aserbaidschan auf Platz 146 von 167. Noch hinter Ländern wie Ägypten oder Simbabwe.

Dennoch neigt man in Europa momentan dazu, den Konflikt allzu sehr schwarz-weiß darzustellen. Das hängt vermutlich mit der religiösen Prägung Bergkarabachs und Aserbaidschans sowie mit der türkischen Invasion zusammen. Die armenische Kirche ist eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Die meisten Aserbaidschaner sind hingegen schiitische Muslime. Diese religiöse Differenz nutzen Rechte in Europa nun häufig, um den Kampf um Bergkarabach als Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen den Islam darzustellen. Wer je in Aserbaidschan war, weiß, dass man es dort mit dem Islam nicht allzu streng hält. Alijew ist sogar erklärter Anti-Islamist: Kaum etwas fürchtet er mehr als Unterwanderung durch Islamisten aus dem Iran. Dass man in Teheran wiederum tendenziell pro-armenisch eingestellt ist, entkräftet dieses Argument noch weiter.

Kein religiöser Konflikt

Allerdings spielt den Vertretern dieser These die Intervention der Türkei in die Hände. Erdogan setzt momentan alles daran, sich als Verteidiger des Islam aufzuspielen. Das zeigt sich exemplarisch in seinem Verhalten gegenüber dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Daneben unterstützt die Türkei auch in bewaffneten Konflikten islamistische Gruppen, etwa in Syrien. Die Unterstützung Aserbaidschans hat allerdings andere Gründe: Ideologisch rechtfertigt Erdogan das Eingreifen eher in nationalistischer Manier über einen Panturkismus. Die Aserbaidschaner gelten wie die Türken als Turkvolk, ihre Sprachen sind miteinander verwandt. Darüber hinaus dürften hier wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle spielen: Aserbaidschan ist reich an Erdgas. Ein Reichtum, von dem auch die Türkei ein Stück abhaben möchte.

Dass der Konflikt nicht religiös motiviert ist, wissen auch viele Armenier. Erst vor wenigen Tagen betonte der Erzbischof von Bergkarabach, Pargev Martirosyan, dass es sich bei dem Krieg keinesfalls um einen religiösen Konflikt handele . Vielmehr unterstellte der Erzbischof dem türkischen Präsidenten, die Religion für seine Zwecke auszuschlachten.

Armenische Verbrechen nicht vergessen

Einen weiteren Fakt darf man nicht vergessen: Während des Bergkarabachkrieges Anfang der 1990er Jahre wurden systematische ethnische Säuberungen durch armenische Truppen durchgeführt. Etwa zur selben Zeit blickte ganz Europa nach Bosnien und verurteilte dort ein solches Vorgehen durch Kroaten und Serben. Heute steht der Begriff „ethnische Säuberung“ gar im Zusammenhang mit dem Völkermord von Srebrenica. Dass heute so gut wie keine Aserbaidschaner mehr in Bergkarabach leben wird dagegen nur selten erwähnt.

Das wird sich in Teilen des Gebiets nun wohl ändern. Aserbaidschan hat große Teile im Süden Bergkarabachs erobert. Der Waffenstillstand, der Anfang der Woche abgeschlossen wurde, sorgt dafür, dass diese Gebiete auch unter Bakus Kontrolle bleiben. Im Gegensatz zu vorherigen Versuchen hat die momentane Waffenruhe aber tatsächlich das Potenzial, von Dauer zu sein: Russische Truppen sollen den brüchigen Frieden sichern. Diese anzugreifen dürfte sich wohl keine Konfliktpartei trauen, nicht einmal Erdogan. Der hatte den Waffenstillstand auch hauptsächlich mit Putin ausgehandelt.

Geopolitischer Spielball

Was dabei auffällt: Die eigentlich betroffenen Parteien spielen nur eine untergeordnete Rolle, sie werden Opfer geopolitischer Überlegungen. Dramatisch spürbar wird das bereits jetzt in Armenien: Ob Premierminister Paschinjan sich gegen den Druck der eigenen Bevölkerung im Amt wird halten können, erscheint fragwürdig. Zwar war Armenien schon vorher mit Russland verbündet, umzingelt von Aserbaidschan und der Türkei hatte man dort eigentlich nie eine andere Wahl. Sollte die Regierung nun aber stürzen, hätte Putin sogar die Möglichkeit in das dortige Machtvakuum vorzustoßen und eine Marionettenregierung einzusetzen.


Soldatenfriedhof für die jungen Helden des Bergkarabachkrieges (F. Nau / kath.de)

Erst recht im Lichte dieser abstrakten geopolitischen Erwägungen lassen mich zwei Erinnerungen aus Bergkarabach nicht mehr los, seit der Konflikt begonnen hat. Die erste: Ein Soldatenfriedhof für die Helden des Bergkarabachkrieges in Stepanakert. Ich konnte zwar die Namen der Gefallenen in armenischer Schrift nicht lesen, ihre Geburts- und Sterbedaten aber sehr wohl. Kaum einer von ihnen war älter geworden, als ich damals war: 25 Jahre. Die meisten eher jünger.

„Wir kennen sie ja nicht persönlich“

Die andere Erinnerung ist die an eine Gruppe junger Männer. Als wir abends aus dem Restaurant kamen, hatten sie uns angesprochen. Wir waren ihnen aufgefallen, in Bergkarabach trifft man nicht alle Tage Ausländer. Sie fragten, ob wir ein Bier mit ihnen trinken wollten, wir lehnten selbstverständlich nicht ab. Sie erzählten uns, dass sie eigentlich in der armenischen Hauptstadt Jerevan studierten und nun zur Ableistung ihres Wehrdienstes zurückgekehrt waren. Das fanden sie eigentlich gut: Beim Militär lerne man wichtige Dinge, werde zum Mann. Aber gegen die Aserbaidschaner hätten sie eigentlich nichts, die seien ihnen egal, man kenne sie ja nicht persönlich. Das hatte mir damals Hoffnung gemacht. Jetzt muss ich mir diese Männer an der Front vorstellen, kämpfend gegen einen Feind, den sie nicht kennen, den sie nicht hassen. Aber schießen müssen sie trotzdem.