Wir beobachten mit einem zustimmenden Wohlwollen die Frauen in Belarus, wie sie für sich eintreten. Auf einmal hat in einem Land, das im toten Winkel unserer Aufmerksamkeit lag, etwas die Menschen erfasst. Welche Kraft ist das und warum können wir sie nur sympathisch finden?
Kaum ein Land hatte wohl geringere Voraussetzungen, eine bürokratische, mit williger Polizeigewalt ausgestattete Herrschaft zu unterlaufen. Allerdings hat es Polen als direkten Nachbarn. Die Bevölkerung dort wagte Schritte in die demokratische Selbstbestimmung, als noch die Sowjetmacht mit ihrer Armee und ihren Geheimdiensten übermächtig war. Im Vergleich mit Polen und überhaupt den Ländern der EU wird den Menschen in Belarus deutlich, dass es wirtschaftlich auch anders geht, dass Demokratie weniger Armut verspricht. Die Frauen, die das Demonstrieren durchhalten, scheinen aber nicht von dem Versprechen auf mehr Wohlstand geleitet.
Der Charme der Freiheit
Wir können, in den Niederungen einer Gewohnheits-Demokratie lebend, fragen, warum wir so wohlwollend auf Menschen blicken, für die wir uns vorher nicht interessiert hatten. Sie haben eine Ausstrahlung, deren Licht auch auf uns fallen soll. Wir fühlen uns ihnen zugehörig. Was wir sonst nur so deutlich bei Sportereignissen erleben, die Kraft, die in Menschen freigesetzt werden kann, sie wirkt in denen, die demonstrieren. Wenn der bisherige Machtinhaber behauptet, die Demonstrationen seien vom Ausland geleitet, dann widersprechen die Bilder dem so augenscheinlich, dass sie den bisherigen Autokraten in seiner Ohnmacht zeigen. Freiheit, wie sie in Belarus durchbricht, kommt aus einer eigenen Kraft. Sie gibt den Demonstrierenden Würde. Es geht dabei auch um mehr als uns im Sport fasziniert. Wenn die Demonstrierenden ihr Ziel erreicht haben, ist das etwas anderes als ein Sieg. Die Würde der Menschen ist wiederhergestellt. Wir sollten das auch für andere Länder ins Auge fassen, z.B. für Nordkorea und einige afrikanische Staaten. Was ist mit den vielen muslimischen Ländern? Freiheit, das zeigen uns die Menschen in Belarus, macht die Würde des Menschen aus. So ist unser Grundgesetzt gebaut, die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese Würde ist in seiner Freiheit begründet. Diese Freiheit müssen wir hin und wieder spüren. Deshalb demonstrieren die Menschen auch für uns.
Freiheit liegt nicht im Interesse der anderen
Belarus ist die Region, in der in diesen Wochen die Freiheit hervorbricht. Nicht aus den Strukturen, sondern aus den Menschen. Denn die Freiheit des einzelnen liegt nicht im Interesse der anderen. Eltern haben bestimmte Vorstellungen, was aus ihren Kindern werden soll. Der Arbeitsmarkt braucht qualifizierte Leute, der Staat Steuerzahler. Schule und Universität geben nur vor, an unserer Kreativität interessiert zu sein. Faktisch sollen wir das wiedergeben, was andere gedacht, formuliert, berechnet haben. Inzwischen haben wir mit den digitalen Medien ein Überwachungssystem aufgebaut, das im Moment vor allem unsere Konsumwünsche lenkt, aber bald auch unser Wahlverhalten. Konnten die Geheimdienste bisher nur die Menschen beobachten, können Google und Facebook das Verhalten lenken. Warum aber dann noch der Luxus freier Wahlen.
Die Diktatoren brauchen den Schein der Zustimmung
Warum regieren Diktatoren nicht einfach ohne Wahlen weiter, so wie Hitler und Stalin? Lukaschenko könnte es doch wie die geborenen Herrscher halten? Könige brauchen sich nicht der Wahl zu stellen, sie werden in das Amt geboren. In mehreren postsowjetischen Staaten und in Nordkorea wird die Herrschaft auch als erblich erklärt. Wie ein König oder eine Königin geben die Staatslenker das Amt an ihren leiblichen Nachkommen weiter. Nur in Saudi-Arabien ist es nicht der Sohn des abgetretenen Herrschers, sondern ein Bruder aus der großen Nachkommenschaft Ibn Sauds. Sie sind einfach ungefragt amtsberechtigt. Offensichtlich braucht ein Herrschender das Gefühl, legitimiert zu sein. Vielleicht, weil es keine Krone gibt, die ihm aufgesetzt wird. Napoleon dachte noch in diesem Legitimationsmuster. Da es offensichtlich keine höhere Macht gab, die ihm das Amt verleihen konnte, musste er sich selbst die Krone aufsetzen. Heute wollen Autokraten gewählt werden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Herrschende auf verschiedene Weise zur Macht kommen und hätten das Weiter-Regieren des belarussischen Herrschers als den normalen Verlauf der Geschichte registriert.
Demokratie ist menschenwürdig, aber nicht naturgegeben
Es könnte doch so sein, dass unsere Demokratie nicht so in unsere Gene eingepflanzt ist. Dringen wir tatsächlich darauf, dass alle Macht vom Volke ausgeht? Diese Idee ist in Spanien schon bereits im 16. Jahrhundert von Mönchen aus dem am meisten demokratisch organsierten Orden der Dominikaner von Francisco de Vittorio, Domingo Soto u.a. entwickelt worden. Schaut man auf Deutschland, dann wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg das Staatsoberhaupt und der Reichskanzler von den Bürgern gewählt. Es gab dann immer noch zu viele, die eine solche Wahl ablehnten und ein autoritäres Regime herbeiwünschten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Verhalten der größten Demokratie eine wichtige Hilfe, dass es unter den Deutschen kaum noch die Überzeugung gab, ein starker Führer, der das Beste für die Nation will, muss mit allen Machtmitteln ausgestattet sein. Wenn die USA jetzt ihre Freiheitsgeschichte missachtet, müssen wir auf eigenen Füßen stehen, nicht nur wirtschaftlich, sondern demokratisch. Die Kraft dazu steckt nicht in den Strukturen, sondern in den Personen. So deutlich wie in Belarus ist das in den EU-Ländern nicht zu erkennen.