Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs und dessen Vertuschung in der katholischen Kirche ist auch deshalb so frustrierend, weil sie nicht unabhängig verläuft. Es gibt nämlich einen übertriebenen Wunsch der systemischen „Täterseite“ nach Nähe und Solidarität mit den Opfern. Das hat auch theologische Gründe: Jesus war den Opfern nahe.
Im Rechtstaat gilt das Prinzip unabhängiger Gerichtsbarkeit. Weder Opfer noch Täter, weder Angeklagter noch Geschädigter entscheiden darüber, wie Angeklagte bestraft oder welche Entschädigung sie Geschädigten gegenüber zahlen müssen. Darüber entscheiden unabhängige Richterinnen und Richter. Sie stehen systemisch weder auf der Seite der Opfer noch auf der Seite der Täter, sind unabhängig von beiden Seiten.
Die unabhängigen Aufarbeitungskommissionen von sexuellem Missbrauch in der Kirche, auf die sich die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und der „Unabhängige Beauftragte“ der Bundesregierung geeinigt haben, sind in diesem rechtsstaatlichen Sinne nicht unabhängig. Über ihre Zusammensetzung bestimmen nämlich die Bischöfe. Bischöfe und andere kirchlich Verantwortliche sind aber – institutionell, systemisch betrachtet – Repräsentanten der Täterseite. Sie dürfen daher nicht – auch nicht „bloß“ in letzter Verantwortung – über die Mitglieder unabhängiger Aufarbeitungskommissionen bestimmen, denn sonst sind diese Kommissionen eben nicht unabhängig. Es bestimmen dann die Verantwortlichen auf der institutionellen Täterseite über die Aufarbeitung.
Starkes Institutionen-Verständnis der Kirche
Die systemische Täterseite kann die Aufarbeitung nicht selbst betreiben. Die katholische Kirche hat ein sehr starkes Institutionenverständnis. Sie versteht sich als Gemeinschaft aller ihrer lebenden und verstorbenen Mitglieder. Heute amtierende Bischöfe stehen qua Amt systemisch auf der Seite früherer Bischöfe, analog gilt dies für den Papst, für Ordensobere usw. Das bedeutet: Sie stehen systemisch auch auf der Seite derjenigen, die (früher) Missbrauchsfälle nicht aufgeklärt, Opfern nicht zugehört, Täter versetzt, Fälle vertuscht haben. Eine Individualisierung nach dem Motto: ‚Das war vor 30 Jahren, damit habe ich nichts zu tun‘ ist unzulässig. Sollten folglich die „Opfer“ oder Betroffenen von Missbrauch die Aufarbeitung bestimmen?
Kein Opfer-Papst, kein Betroffenen-Bischof
Systemisch gesehen sind „die Opfer“ oder „die Betroffenen“ von sexualisierter Gewalt keine institutionelle Größe wie ein Bistum oder die römisch-katholische Kirche, der Bischöfe und Papst als Repräsentanten und Verantwortliche vorstehen. Eine solche systemische Verantwortungskontinuität zwischen verschiedenen Betroffenen gibt es ausdrücklich nicht. Es gibt keinen Opfer-Bischof, keinen Betroffenen-Papst. Ein Betroffener ist daher auch nicht automatisch der Sprecher oder Anwalt anderer Betroffener. Die Verletzungen, Emotionen, Bedürfnisse und Forderungen verschiedener Betroffener können höchst unterschiedlich sein. Zum Beispiel wollen manche Betroffene nicht, dass andere Betroffene wissen, dass sie ebenfalls betroffen sind; und erst recht nicht, dass sie stellvertretend für sie sprechen oder Forderungen „für sie“ vorbringen. Allenfalls kann eine bestimmte Betroffenengruppe einen Sprecher/in wählen, der dann für diese eine Gruppe spricht.
Opfer dürfen nicht Kläger und Richter sein
Einerseits ist die „Aufarbeitung ohne Beteiligung der Opfer nicht möglich“, schreibt der Jesuit Klaus Mertes in der Herder Korrespondenz. Die Aufarbeitung baue schließlich „wesentlich auf den Berichten der Betroffenen und der Anerkennung ihrer Wahrheit“ auf. Andererseits gelte: Wenn es um Entscheidungen über Aufarbeitung, Prävention und Intervention geht, müssen kirchlich Verantwortliche diese treffen. Betroffene dürfen dann nicht in Mitverantwortung genommen werden. „Sonst kommt es zu Konstellationen, in denen sich Missbrauch fortsetzt: Die Institution beruft sich auf das Votum der Betroffenen für die Legitimation ihrer Entscheidungen“, so Mertes. Das heißt: Wenn die systemische Täterseite Entscheidungen über die Aufarbeitung trifft, können nicht die Opfer der Taten mit in die Verantwortung genommen werden. Betroffene/Opfer dürfen in solchen Konstellationen nicht gleichzeitig Kläger und Richter sein.
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Wer entscheidet über Entschädigungszahlungen?
Sichtbar wird dieses Problem zum Beispiel, wenn es um Entschädigungszahlungen geht. Die Opferseite kann natürlich ihre Forderungen stellen, kann aber nicht über ihre eigenen Forderungen entscheiden. Unter welchen Bedingungen, mit welchen Kriterien und in welcher Höhe Schmerzensgeld an Betroffene ausgezahlt wird, können die systemische Täter- und Opferseite nicht gemeinsam beraten, und erst recht nicht gemeinsam darüber entscheiden. Jedenfalls könnte eine solche Entscheidung dann nicht „unabhängig“ genannt werden. Dazu bräuchte es eben eine tatsächliche unabhängige Instanz. Eine solche müsste, am besten staatlich verantwortet, in einer tatsächlich von Opfern und Tätern unabhängigen „Richterrolle“ handeln und entscheiden.
Betroffene und Bischöfe: Keine „Augenhöhe“
Diese und andere systemische Aspekte der Missbrauchsaufarbeitung stellen Kirchenverantwortliche auch zehn Jahre nach 2010 noch vor Herausforderungen und lassen sie fragwürdige Entscheidungen treffen. Ein Beispiel: Im Erzbistum Köln gibt es einen Betroffenenbeirat zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Über dessen Besetzung entscheidet der Beraterstab des Erzbischofs. In dem Kölner Gremium wirkt ein Betroffener mit, der gleichzeitig Angestellter des Erzbistums mit. Die Tätigkeit im Beirat ist zwar ehrenamtlich. Doch als Angestellter des Erzbistums hat der Betroffene gewisse dienstliche Loyalitätspflichten gegenüber seinem Dienstherrn, dem Erzbischof. Auf diese Weise ist er also in einem systemischen Abhängigkeitsverhältnis zum Bischof, denn dieser repräsentiert systemisch die Täterseite. Irritierenderweise ist in Veröffentlichungen des Erzbistums gleichzeitig von „Augenhöhe“ zwischen Mitgliedern des Betroffenenrats einerseits und dem Bischof andererseits die Rede.
Jesus war den Opfern nahe
Hinter diesem Wunsch nach „Augenhöhe“ mit den Opfern stecken auch theologische Beweggründe: Bei der Auslegung vieler neutestamentlicher Bibeltexte, dem Verständnis der Bergpredigt und dem Leben Jesu wird theologisch meistens seine Nähe zu den Armen, den Ausgegrenzten, den Opfern ungerechter Strukturen betont. Jesus ist der, der sich mit den Opfern solidarisiert. Die Konsequenz: Um Jesus nahe zu sein, muss ich den Armen, den Opfern nahe sein. Bei vielen Gläubigen und daher auch bei vielen kirchlichen Verantwortlichen stößt man daher auch beim Thema Missbrauch auf die Haltung: Wir wollen uns mit den Opfern solidarisieren, ihnen helfen, ihnen nahe und auf ihrer Seite sein, zusammenarbeiten, uns von den Opfern beraten und helfen lassen. Wenn sich aber die – systemische – Täterseite mit den Opfern gemein macht, sich mit ihnen solidarisiert, dann vermischen sich die Ebenen: Die Repräsentanten der systemischen Täterseite werden auf unzulässige Weise empathisch mit den Opfern, wenn sie in eine Art „Anwalt“-Rolle der Opferseite geraten. Wenn die Vertreter der Täterseite sich mit den Opfern solidarisieren und sich gewissermaßen mit ihnen „gegen die bösen Täter“ von früher stellen wollen, bleibt auf der ursprünglichen Täterseite niemand mehr ansprechbar. Denn dann gibt es noch nur Opfer. Auch ist die Haltung verbreitet, die Kirche leide schließlich auch unter den schlimmen Verbrechen in ihren eigenen Reihen. Oft genug haben sich Kirchenvertreter schon in Akten der Selbst-Viktimisierung zu Opfern des „Missbrauchsskandals“ stilisiert. So werden dann auf einmal die Opfer mit ihrem Leid, ihrer Wut, ihrem Zorn gegenüber der Institution zu Tätern, weil sie damit der Kirche Schaden zufügen.
Christus: Zugleich unschuldiger Täter und Opfer
Theologisch gesehen ist Christus aber gerade nicht nur mit den Opfern solidarisch, sondern er stirbt auch als Sühne für die Täter. Christus zahlt in seinem brutalen Kreuzestod mit seinem Leben für die Sünden der Täter. Er ist das unschuldige Opfer und gleichzeitig auch Repräsentant der Täter. Eine solche Christusnähe, nämlich auf der Seite der Täter für die Taten der Täter gerade zu stehen, dürfte vielen deutlich schwerer fallen als die bei den Opfern. Christus am Kreuz leistet die Ausgleichszahlung für die Täter an die Opfer; ob an Gott oder die menschlichen Betroffenen, kann man theologisch diskutieren. Jedenfalls hängt Jesus am Kreuz neben zwei Verbrechern. Er stirbt dort als Repräsentant der Täterseite, er zahlt das Lösegeld für die Sünder, die Entschädigungszahlung für die Täter an die Opfer. Soteriologisch, also auf die Logik der Erlösung durch Christus gesehen, funktioniert die Sühne durch Christus aber nur deshalb, weil Christus selbst frei von Schuld, von Sünde war. Er konnte in seinem Leben den Sündern, auch den Tätern in ihrer Sündhaftigkeit nahe sein, weil er selbst frei von Sünde war.
Die gegenwärtig Verantwortlichen in kirchlichen Leitungspositionen müssen aber die Verantwortung tragen für das Versagen – biblisch gesprochen: für die Sünden – ihrer Vorgänger. Auch wenn sie selbst persönlich im engen Sinne unschuldig oder unwissend sind oder waren, dürfen sie sich nicht mit den Opfern solidarisieren, sich von ihnen kollegial oder gar „auf Augenhöhe“ beraten lassen. Sie dürfen nicht gleichzeitig die Täterseite und die Opferseite repräsentieren.