Die Regierungen beschwören ständig die Solidarität der Bürger, gleichzeitig schieben sie Menschen in Corona-Hochburgen ab und retten vor allem große Unternehmen. Spätestens nach dem Ende der Krise, wenn das Ausmaß der wirtschaftlichen Katastrophe sichtbar wird, könnte es mit zivilgesellschaftlicher Solidarität vorbei sein. Die Mechanismen des Kapitalismus könnten stärker greifen als je zuvor.
In der gegenwärtigen Krise leben Geflüchtete in Deutschland besonders gefährlich. Das Bundesinnenministerium hat dieser Tage einen Privatjet für die Abschiebung einer togolesischen Staatsbürgerin gechartert. Regulären Flugverkehr gibt es momentan nicht: Der Flughafen der Haupstadt Togos, Lomé, ist wegen der Corona-Pandemie für Flüge aus Europa gesperrt. Der Flug wurde zwar aus organisatorischen Gründen verschoben, viel Hoffnung kann sich die Frau dennoch nicht machen. Auch zwei Frauen aus dem Iran sollten abgeschoben werden.
Staatsgrenze = Grenze der Solidarität
Mitten in einer internationalen Krise zahlt der deutsche Staat Hunderttausende Euro dafür, Menschen in Länder zu bringen, die als „Hotspots“ der Corona-Pandemie gelten und deren Gesundheitssysteme kurz vor dem Kollaps stehen. Während die Grenzen innerhalb der EU geschlossen bleiben, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, dürfen Covid-19-Erkrankte aus Italien nach Deutschland geflogen und hier in Krankenhäusern behandelt werden. Als sei das Leben eines Europäers mehr wert als das eines Iranerin oder Togolesin.
Regierungsmitglieder in Deutschland sprechen in der Krise täglich davon, wie wichtig Solidarität sei. Sollen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft an den EU-Außengrenzen stehen bleiben? Haben in einer so schweren Zeit nicht alle Menschen Solidarität verdient, gerade die Schwächeren?
Kaum Hilfen für kleine Unternehmen
Das Verhalten der Bundesregierung wirkt durch die fortgesetzten Abschiebungen in Corona-Krisengebiete zynisch und kaum solidarisch. Gleichzeitig übt sich die Zivilgesellschaft während der Krise in Solidarität: Die Abschiebung der zwei Iranerinnen konnte durch Proteste verhindert werden. Menschen unterstützen einander durch Nachbarschaftshilfe, durch persönliches Engagement werden Personen geschützt, die zu Risikogruppen gehören. Kontaktsperren und Mindestabstand werden von den meisten Menschen eingehalten, auch von denjenigen, die wohl davon ausgehen, dass ihnen selbst die Krankheit nicht zu sehr schaden kann.
Wenig Optimismus hingegen bringt der Blick auf das Verhalten des Staats gegenüber der Wirtschaft. Die Regierungen handeln gemäß der Logik: „too big to fail“ – zu groß, um zu scheitern. So erhalten vor allem große Unternehmen, wie „Adidas“, Milliardenkredite von der Bundesregierung. Von großen Unternehmen hängen zwar besonders viele Arbeitsplätze ab. Kleine Unternehmen spüren dagegen wenig von staatlicher Hilfe. Wenn viele kleinere und mittelständische Betriebe scheitern, sind allerdings ähnlich viele Stellen bedroht wie bei so manchem Großkonzern.
Kulinarische Dividenden
Auch für die kleineren Betriebe springt daher die Zivilgesellschaft in die Bresche, um die schlimmsten Folgen abzufedern. Kultureinrichtungen und Clubs erfahren große Solidarität durch Spenden. Zudem verkaufen Restaurants Gutscheine, die man nach dem Ende der Krise einlösen kann. Sozusagen eine Investition mit kulinarischer Dividenden-Auszahlung – wenn es das gewählte Restaurant dann noch gibt. Denn man muss befürchten, dass viele kleinere Unternehmen die Krise nicht überleben werden.
Mehr Menschen als je zuvor könnten dann ihren Arbeitsplatz verlieren, was zu einer starken Belastung der Sozialsysteme führen würde. Wer bereits heute auf Sozialleistungen angewiesen ist, würde noch weiter abrutschen. Gerade geringqualifizierte oder ältere Menschen, die es auf dem Arbeitsmarkt ohnehin schwer haben, würden besonders leiden.
Solidarität – nur ein Strohfeuer?
Die Folgen der Krise werden die Schwächen des Kapitalismus verstärken. Selbst mit den Sicherungssystemen der sozialen Marktwirtschaft haben viele verinnerlicht: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Wird die zivilgesellschaftliche Solidarität, die in der Krise wie ein Strohfeuer aufgeflammt ist, im kapitalistischen „Normalbetrieb“ weiter bestehen? Oder wird die Logik des Marktes angesichts scheiternder Unternehmen und mangelnder Arbeitsplätze siegen? Nach der Krise könnte es angesichts mangelnder wirtschaftlicher Ressourcen mit der Solidarität schnell vorbei sein.
Ausgerechnet in dieser Situation scheint es, als sollten die Verbote öffentlicher Gottesdienste und Seelsorgeangebote zu allerletzt gelockert werden. Dabei könnten doch gerade die religiösen Institutionen Solidarität, Mitgefühl und Gemeinschaft stiften.