Recht auf Arbeit statt Hartz IV

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit von Hartz IV-Sanktionen geht die problematischsten Kürzungsgründe überhaupt nicht an. Wer einen Job oder eine Maßnahme ablehnt, dem dürfen künftig nur noch bis zu 30 Prozent des Regelsatzes gestrichen werden. Letztes Jahr wurden aber nur rund 10 Prozent der Sanktionen deswegen verhängt. Die Symbolwirkung des Urteils ist daher groß, weil die Sanktionen häufig so drastisch ausfielen. Aber: Niemand hat die Auswirkungen der Sanktionen bisher umfassend erforscht.

Der Hartz IV-Regelsatz soll das Existenzminimum darstellen. Zum Leben zu wenig, zum Sterben dann doch ein bisschen zu viel. Eine menschenwürdige Existenz ist ein Grundrecht und Grundrechte kann man bekanntlich nicht teilen oder einschränken. Auf den ersten Blick sollten die Sanktionen ganz allgemein also dem deutschen Grundgesetz widersprechen. Dennoch ist die Sanktionierung von Hartz IV-Beziehern nun weiterhin möglich. Dieser Gedankengang ist natürlich nicht neu. Von einigen Politikern und Kommentatoren wird er seit Jahren bemüht und das auch nicht zu Unrecht.


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Mehr Arbeitslose als freie Stellen

Was führen die Gegner dieser Argumentation an? FDP-Chef Christian Lindner sprach etwa davon, die Sanktionen seien ein Zeichen der Fairness gegenüber dem Steuerzahler. Sie sollen, mit anderen Worten, das Strafbedürfnis der sogenannten Solidargemeinschaft befriedigen. Damit wird ein Narrativ bedient, nach dem sich Arbeitslose eben einfach nicht genug anstrengen und deshalb das Geld derer, die täglich zur Arbeit gehen dann eben nicht verdient haben. Um zu wissen, dass diese Geschichte so nicht stimmt, muss man nur die Anzahl freier Arbeitsplätze der Zahl an Arbeitslosen gegenüberstellen: Im Jahr 2019 kommen 2,3 Millionen Menschen ohne Arbeit auf knapp 787.000 freie Stellen.

Bedenken sollte man bei dieser Gegenüberstellung freilich ebenfalls, dass die Arbeitslosenstatistik nicht alle tatsächlich Arbeitslosen umfasst. Bekanntlich sind in ihr zum Beispiel keine Menschen erfasst, die sich momentan in einer Weiterbildung oder einem „Ein-Euro-Job“ befinden. Das lässt folgenden einfachen Umkehrschluss zu: Viele dieser Menschen können schlichtweg überhaupt keinen Job finden, so sehr sie es auch wollen. Warum sie sollte man sie also gängeln? In Deutschland herrscht keine Vollbeschäftigung, im Gegenteil: Man muss nur den Fernseher einschalten, um über den nächsten Stellenabbau bei einem großen Unternehmen informiert zu werden.

Arbeit ermöglicht soziale Teilhabe

Wirtschaftliche Entwicklungen sind niemals so alternativlos, wie sie gerne verkauft werden. Der Staat nimmt diese Arbeitslosen bewusst in Kauf, um seine eigene Konjunktur nicht zu gefährden. Deshalb ist es nur gerechtfertigt, wenn er auch die Verantwortung für sie übernimmt. Und da wir von Konjunktur – im besten Falle – alle profitieren, sollten auch die Arbeitenden die Solidargemeinschaft ernst nehmen und die schwächsten Glieder der Gesellschaft nicht abhängen, sondern ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.

Noch wünschenswerter wäre aber natürlich ein anderes Szenario: Wenn es nämlich kein Recht auf Arbeitslosengeld gäbe, sondern ein Recht auf Arbeit. Arbeit ist in unserer Gesellschaft nicht nur ein Mittel zum Broterwerb, sondern ermöglicht auch soziale Teilhabe. Durch das Geld, dass man verdient, kann man etwa an Aktivitäten teilnehmen. Durch den sozialen Kontakt am Arbeitsplatz überwindet man Isolation, kann sogar Freunde finden. Arbeitslose müssen zusätzlich zu ihrer ökonomischen Benachteiligung häufig auch mit einem starken sozialen Stigma kämpfen, doch wer arbeitet, hat eine bessere Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie.

Was in der Politik zudem immer noch unterschätzt wird: Digitalisierung ist nicht nur eine segensbringende Technik, die vorangetrieben werden müsste. Sie führt auch dazu, dass es künftig und schon jetzt immer weniger Erwerbsarbeit geben und diese zudem immer weniger sinn- und identitätsstiftend sein wird. Die Maschinen und Künstliche Intelligenz werden immer besser, so schnell kann kein Mensch hinterherkommen, nicht nur, weil es viel zu wenige Fortbildungen bzw. Umschulungen gibt. Es wird wohl kaum ohne irgendeine Art von (bedingungslosem) Grundeinkommen gehen. Angesichts dessen wirken Hartz IV und die damit verbundenen Sanktionen für Menschen, die nicht arbeiten können, geradezu wie aus der Zeit gefallen.

Sanktionen erschweren Jobsuche

Aber selbst, wenn es Arbeitsplätze für alle gäbe, wäre die Kürzung von Leistungen trotzdem mit der Menschenwürde unvereinbar. Nicht immer findet sich schließlich ein Arbeitsplatz, für den man qualifiziert ist, an dem Ort, an dem man aus diesen oder jenen Gründen gerne bleiben möchte oder sogar muss. Und: indem man Menschen diese Leistungen kürzt, ihnen ihr Existenzminimum nimmt, versetzt man sie ganz klar in eine Lage, in der es für sie deutlich schwieriger wird, überhaupt einen Job zu finden. Wer sich permanent Gedanken über die kleinsten Ausgaben machen muss, oder gar über die nächste Mahlzeit, der hat natürlich deutlich weniger Kapazitäten frei, um sich am Arbeitsmarkt umzuschauen.

Kritiker des Sozialstaats verweisen gern darauf, dass einige Menschen überhaupt nicht arbeiten wollen, sprechen sogar von „Sozialschmarotzern“. Abgesehen davon, dass diese Menschen wahrscheinlich eine Minderheit darstellen: Was erwartet man von jemandem, der auf dem Arbeitsmarkt nichts als Frust und ein Gefühl von Wertlosigkeit kennen gelernt hat? Oder dieses Gefühl schon von den eigenen Eltern vermittelt bekommt? Das Gerede von „Sozialschmarotzern“ und Kürzung von Sozialleistungen tragen herzlich wenig dazu bei, solche Menschen aus ihrer Perspektivlosigkeit heraus zu holen.

Wirksamkeit der Sanktionen nie erforscht

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts tut wenig für diese Menschen. 77 Prozent aller Sanktionen werden für sogenannte „Meldeversäumnisse“ verhängt, wenn also jemand seinen Termin bei Amt oder Arzt nicht wahrgenommen hat. Man stelle sich vor, wie ein normaler Arbeitnehmer reagieren würde, wenn man seinen Lohn wegen eines versäumten Amtstermins um zehn Prozent kürzt. Diese Sanktionen wurden vom Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht angetastet.

Doch das gehört alles zum Konzept des „Förderns und Forderns“ mittels Sanktionen. Ob die aber überhaupt irgendeine Wirkung haben, wusste noch nicht einmal der stellvertretende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, zu sagen. Er stellte in der Ausführung des Urteils fest, dass in den 15 Jahren seit der Einführung von Hartz IV niemand die Auswirkungen der Sanktionen jemals umfassend erforscht habe.