Erst Betonplatten, dann gut zwei Meter Blech und oben drauf ein Netz. Damit werden in Belfast keine Bolzplätze begrenzt, sondern im Westen der Stadt Katholiken und Protestanten daran gehindert aufeinander loszugehen. Dieser „Peace Wall“ - übersetzt so viel wie „Friedensmauer“ - ist nicht der einzige seiner Art in Nordirland. Und wenn Mauern gebaut werden, um Städte zu teilen und Menschen den Kontakt zueinander zu erschweren, dann sollte uns das gerade in Europa nachdenklich stimmen.
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Sicherlich: Die Situation im Kalten Krieg war eine andere. Gewisse Parallelen ergeben sich aber dennoch, wenn man genauer hinsieht. „Peace Wall“ und eiserner Vorhang sind zunächst einmal ein Ausdruck des Scheiterns. Gescheitert sind die Regierungen, die solche Mauern aufstellen müssen, gescheitert auch die Diplomatie, die die zugrunde liegenden Konflikte regeln sollte. Die Sowjetunion musste den eisernen Vorhang errichten, weil sie befürchtete die Bürger der Ostblockstaaten nicht im Land halten zu können. Statt etwas zu tun, um sie zum Bleiben zu bewegen, antwortete sie mit steinerner Repression.
Mauern lösen keine Probleme, sondern vertagen sie
Die britische Regierung stellte die Mauern in Nordirland dagegen auf, weil sie nicht in der Lage war, vielen Katholiken den Verbleib im Vereinigten Königreich schmackhaft zu machen. Ganz im Gegenteil: Immer wieder goss sie durch Menschenrechtsverletzungen Öl ins Feuer. Nun ist das Vereinigte Königreich natürlich nicht die Sowjetunion und die Verstöße gegen die Menschenrechte hatten im Ostblock sicherlich eine ganz andere Qualität als in Großbritannien. Das dürfte auch einer der Gründe dafür sein, dass der UdSSR und den anderen Ostblockstaaten die von ihnen gebauten Mauern irgendwann zum Verhängnis wurden.
Die Probleme der Sowjetunion und Großbritanniens wurden indes von den Mauern nicht gelöst, sondern nur vertagt. Im Ostblock entluden sich die Spannungen schließlich um das Jahr 1990 herum. In Nordirland dagegen konnte durch das Karfreitagsabkommen von 1998 der Konflikt zwischen Republikanern und Unionisten zumindest teilweise entspannt werden. Die Mauern aber blieben stehen und zementierten die Teilung des Landes in zwei Bevölkerungsgruppen.
Gleiche Lebensrealität auf beiden Seiten der Mauer
Wer einmal durch die katholische Falls Road in Belfast läuft wird das schnell merken: Grün, Weiß und Orange, die Farben der irischen Flagge, sind omnipräsent, in den Pubs wird irisches Guiness getrunken. Von den Häusern blicken die Gesichter gefallener IRA-Kämpfer und wer hier von Protestanten spricht, der zeigt in Richtung Mauer. Allzu wohl scheinen sich viele Katholiken im Königreich immer noch nicht zu fühlen. Wie auch, wenn ihnen gerade der Kontakt zu den Menschen fehlt, die ihre Lebensrealität teilen? West-Belfast – katholisch wie protestantisch - ist eine Arbeitergegend und abgesehen von Farbgestaltung und Bier lebt es sich jenseits der Mauer wohl auch nicht anders als in der Falls Road.
Seit 2016 rückt der Konflikt in Nordirland jedoch wieder in den Fokus des internationalen Interesses. In jenem Jahr entschieden sich die Bürger des Vereinigten Königreichs mit knapper Mehrheit dazu, die EU zu verlassen. Die Mitgliedschaft in der EU aber hatte die wichtigste Bedingung des nordirischen Friedensabkommens von 1998 überhaupt erst möglich gemacht: Eine Grenze zur Republik Irland, die man nur auf der Landkarte sehen kann. Kein Wunder also, das die meisten Nordiren sich 2016 einen Verbleib in der EU wünschten.
Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit
Seit die offene Grenze durch die Brexit-Verhandlungen in Gefahr ist, kommt es in Nordirland wieder häufiger zu Terror und Gewalt. Trauriger Höhepunkt war die Ermordung einer Journalistin im April diesen Jahres. Und es könnte, abhängig vom Verhandlungsergebnis zwischen Boris Johnson und der EU, noch schlimmer kommen. Die Vorstellung, die paramilitärischen Gruppen auf beiden Seiten hätten sich nach dem Friedensschluss von 1998 vollständig entwaffnet, ist mindestens naiv.
Die britische Regierung droht nun einen weiteren Fehler aus der Zeit des Kalten Krieges zu wiederholen: Sie holt die Menschen, die von ihren Entscheidungen betroffen sind nicht mit ins Boot. Natürlich kann man Großbritannien, das sei an dieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt, nicht mit den undemokratischen Regimen des Realsozialismus vergleichen. Aber viele Nordiren dürften von den plötzlichen Problemen und dem Wortbruch gegenüber dem Friedensabkommen überrumpelt gewesen sein. Natürlich muss die Regierung in London das Mehrheitsvotum respektieren. Demokratie besteht aber nicht nur aus Wahlen und sie ist erst recht keine Diktatur der Mehrheit. Sondern Demokratie umfasst auch die Aushandlung von Kompromissen und den Schutz der Rechte von Minderheiten, Partikularinteressen und Minoritätspositionen.
Mehr Selbstkritik
Die Kirchen in Nordirland scheinen immerhin bereit zu sein, den Konflikt hinter sich zu lassen. So appellierten sie etwa im Mai an die beiden größten nordirischen Parteien, endlich gemeinsam an Lösungen für wichtige Probleme des Landes zu arbeiten. Republikanische Sinn Féin und unionistische DUP blockieren sich gut zwei Jahren gegenseitig, obwohl Nordirland eine funktionierende Politik gerade besonders gut gebrauchen könnte. Aus dem Vatikan ist unterdessen nichts zu hören, scheinbar will man sich nicht in politische Probleme einmischen. Die sind für die Katholiken in Nordirland allerdings auch ganz handfeste Glaubensprobleme: Durch eine Schließung der Grenze zu Irland würden auch mehrere katholische Bistümer geteilt werden.
Aber bei aller Kritik, die derzeit vom Festland an der britischen Politik geübt wird: Wir sollten nicht vergessen, dass auch Europa ein Stück weit gescheitert ist. Wir in Europa haben es versäumt, die Briten für einen Verbleib in der EU zu begeistern. Das müsste eigentlich zu umso härterer Selbstkritik führen. Die Grenze, die nun im Norden der Republik Irland und im Ärmelkanal entsteht, ist also auch ein Zeichen unseres Scheiterns – ob mit oder ohne Mauer.