Russland: Warum die Frontstellung gegen den Westen?

Russland hat sich durch die Auseinandersetzung mit der Ukraine im Azowschen Meer neu in die Schlagzeilen gebracht. Die Reaktion des Westens war eindeutig, die der russischen Bevölkerung gespalten. Insgesamt unterstützt auch die russische Jugend die Politik Putins, Russland wieder in den Kreis der Großmächte zu führen. Das ist mit einer Frontstellung gegen den Westen verbunden, die in der Bevölkerung neu verankert ist. Der Korrespondent von explizit.net in Moskau, Vladimir Pachkov zeigt die Entwicklung auf, die fast eine Rückkehr in die Zeiten des Kalten Krieges darstellt.

Der Kommunismus hat viele Ideen, die im alten Russland noch vor der Oktober Revolution existierten, vereinnahmt und sie transformiert, u.a. das Festhalten an der Idee des mächtigen Reiches, Gemeinschaftlichkeit, Nationalismus und hat auf sie neue, aus dem Westen stammende Ideen darübergelegt. Jetzt versucht Russland an seine Tradition anzuknüpfen und behält von dem sowjetischen Erbe nur das, was der uralten russischen Tradition entspricht. Dazu gehört, dass der Staat viele Merkmale der totalitären Ordnung bewahrt: die Dominanz der Politik über die Wirtschaft, des Staates über die Gesellschaft und des politischen Willens über die ökonomischen Interessen. Das ist Erbe des alten Russlands und kann nicht westlichem Einfluss zur Last gelegt werden. Man zieht es aber vor, das auszublenden. Gleichzeitig ist es nicht zu leugnen, dass Russland mit dem Westen viel gemeinsam hat – die Krise der Familie, die demographische Krise, die Krise der Werte und auch der Religion. Das Versuch der russischen Elite, diese Probleme im Unterschied zu den meist liberalen Eliten im Westen durch die Stärkung der “Traditionellen Werte” der Familie, der Religion und des Patriotismus zu überwinden führt dazu, dass Russland sich als eine Art Gegenpol zu dem modernen westlichen Wertesystem positioniert.

Russland hat nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sich nur anfangs für den Westen geöffnet

Russland widersetzt sich kulturellem Einfluss des postmodernen Westens und lehnt dessen Werte nicht deshalb ab, weil es so unterschiedlich vom Westen wäre. Russland ist in vieler Hinsicht dem modernen Westen bzw. dem, was man in Russland darunter versteht, ähnlicher als es den politischen und religiösen Eliten im heutigen Russland lieb ist. Um sich trotzdem abzuheben, wird der Westen als dekadent dargestellt, dass im Westen alle Werte dem Verfall preisgegeben sind, dass die westlichen Gesellschaften auseinanderbrechen. Dazu versteht sich Russland als Alternative. Russland hat die Moderne nie völlig angenommen. Auf die noch archaische Gesellschaft wurden bestimmte Schichten, die heutzutage als “Postmoderne” bezeichnet werden, gewaltsam zuerst von den Bolschewiken und dann in der Zeit der Perestroika durch die Politiker, die Russland nach dem westlichen Bild umformen wollten, aufgepfropft. “Glasnost” war nichts anderes als “sozialistische Postmoderne, die “Dekonstruktion” des real-existierenden Sozialismus. Die Individualisierung und der Verlust der Identität in Russland ist tieifgehender und dramatischer verlaufen als im Westen, weil dieser Prozess gewaltsam der Gesellschaft aufgezwungen wurde, die ihre Werte und Strukturen im Laufe der sozialen Experimente des 20. Jahrhundert verloren hatte. Am Ende dies 20. Jahrhunderts stand Russland vor dem Abgrund und es war nur der Selbsterhaltungsinstinkt, der die Gesellschaft davon bewahrte, den letzten Schritt in den Abgrund zu setzen. Es wurden Anstrengungen unternommen, den Prozess aufzuhalten und die alte Werte und Strukturen wie die der Familie, der Religion und der Kirche, der gesellschaftlichen Solidarität widerherzustellen. Deswegen reagiert Russland allergisch auf jeden Versuch “die Werte der Postmoderne” zu propagieren – das zeigt sich in dem Streit um Homosexualität, um das Recht der Kirche zumindest in ihrem Raum zu bestimmen was passieren soll, erinnert sei an den Fall von “Pussy Riot”, der Souveränität des Staates gegen die Versuche, ihn unter den Einfluss überstaatlicher Strukturen zu stellen.

Identität in den traditionellen Werten

Schon in den 90iger Jahren wurden Versuche unternommen, diesen Prozess aufzuhalten. Aber weder die orthodoxe Kirche noch patriotisch-nationalistische Bewegungen alleine waren dazu stark genug. Sie schufen aber eine Stimmung im Lande, die sowohl zum Wahlsieg Putins wie auch zum Sieg der Partei “Einiges Russland” im Jahre 2003 führte. Die Partei hat sich als patriotisch und traditionell präsentiert. Nachdem Putin als Präsident auch mit dieser Partei eine starke Basis im Parlament hatte, wurde eine Wende in der Politik eingeleitet – von der westlichen Orientierung zu den traditionellen Werten hin. Das war nicht nur die Folge der politischen Spannungen mit dem Westen, sondern vor allem die bewusste Entscheidung, eine neue Ideologie zu schaffen, die sich mehr auf Patriotismus als auf individuelle Freiheiten, Liberalismus und Individualismus stützt.
Die neue Staatsideologie besteht aus dem Patriotismus und den “traditionellen Werten”, die auch von der orthodoxen Kirche repräsentiert werden. Das muss berücksichtigt werden, wenn man Widersprüche in Russland selbst und seinen Beziehungen zum Westen verstehen will.