Unsere Redakteurin hat mexikanische Wurzeln und wird deshalb in ihrem Alltag immer wieder mit Vorurteilen oder Anfeindungen konfrontiert, auch im vergangenen Jahr. Von ihren Mitmenschen wünscht sie sich im nächsten Jahr mehr Zivilcourage und Empathie.
lisa runnels auf Pixabay
“Ausländer raus!” – Das haben ich und viele Leute aus meinem Umfeld schon oft gehört. Man lässt uns das immer wieder spüren. Zuletzt während meiner Heimfahrt vom Büro nach Hause:
Ich saß in der Bahn und war in Gedanken versunken, was ich zuhause noch alles erledigen musste. Mir gegenüber saß ein etwa 12-jähriges Mädchen mit einem Kopftuch und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Schräg gegenüber stand ein junger Mann mit dunkler Haut. Ansonsten war der Waggon relativ leer. Am Gelsenkirchener Hauptbahnhof stiegen noch ein paar Menschen dazu. Einige Stationen weiter stieg ein Mann ein. Er kam durch die Tür, die in meinen Rücken lag und ich bemerkte ihn zuerst durch seine Alkoholfahne, die mir durch die kalte Zugluft in die Nase stieg. Dann schrie und lallte er unverständlich. Ich versuchte, so wie alle anderen auch, ihn zu ignorieren. Plötzlich fing er an, lauter zu schreien. “Ausländer raus", hallte der hasserfüllte Schrei. Das Mädchen mir gegenüber schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Und mit Blicken versuchte ich ihr zu sagen, dass alles gut ist und ich auf sie Acht gebe. Der Mann schwankte kurz in unsere Richtung. Dabei schrie er. In diesem Moment kam der Schaffner durch den Zug zu uns nach hinten gerannt: “Verlassen Sie das Fahrzeug", sagte er mit einem leicht osteuropäischen Akzent. Der Betrunkene schrie noch ein wenig herum und verließ dann die Bahn. Als die Bahn weiter fuhr, schaute das Mädchen ihm noch eine Weile durch die Scheiben hinterher. Ich würdigte ihn keines Blickes, ich wollte ihm meine Aufmerksamkeit mehr geben.
Menschen zweiter Klasse
In Deutschland bleibt die Zahl der gemeldeten Fälle von Diskriminierung weiterhin hoch: Das zeigt zum Beispiel der Jahresbericht 2021 der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Am häufigsten erleben Menschen rassistische Diskriminierung, meistens in ganz alltäglichen Situationen.
Eine Szene aus dem vergangenen Jahr ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Es war zu Zeiten des 9 Euro-Tickets und ich stand in einer vollen Regionalbahn auf dem Weg nach München. Neben mir, im Eingangsbereich der Tür, eine schwangere Frau mit Kopftuch, zusammen mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern. Der Zug war rappelvoll und in der 2. Klasse konnte man nicht mehr sitzen. Die 1. Klasse war leer, die Frau setzte sich schließlich dort auf einen Platz. Ein Schaffner kam und machte der Familie sehr deutlich, dass sie kein Recht hätten, sich in der ersten Klasse aufzuhalten. Sie müssten sich wieder in die 2. Klasse stellen. Der Schaffner sprach sehr laut mit ihnen, sodass viele Fahrgäste aufmerksam zuschauten. Er erklärte ihnen kühl, dass sie der zweiten Klasse angehören und ließ sie kaum zu Wort kommen. Ich spürte große Wut in mir aufsteigen. Der 2. Klasse angehören? Damit meinte er wohl mehr als die Wagenklasse der Deutschrn Bahn. Für mich war das Rassismus, irgendwie versteckt und indirekt, aber trotzdem spürbar und verletzend. Der Ehemann der Schwangeren schlug vor, ein Erste-Klasse-Ticket für seine Frau zu kaufen, da sie in ihrem Zustand nur schwer stehen konnte. Der Schaffner lehnte das ab und meinte, sie sollten nochmal in anderen Waggons nach einem Platz suchen. Ebenfalls im Eingangsbereich der Bahn stand noch eine weitere Frau, mit Kinderwagen, ohne Kopftuch, offenbar keine Muslima. Der Kontrolleur forderte sie auf, das Baby aus dem Kinderwagen zu nehmen und sich in die 1. Klasse zu setzen. Viele Menschen um mich herum waren empört. Mir standen vor Wut Tränen in den Augen. “Wo liegt denn bitte schön der Unterschied zwischen den beiden Frauen? Eine Schwangere hat den Platz doch so viel eher nötig als ein Baby im Kinderwagen!” Der Schaffner schaute mich eine Sekunde lang nur an und antwortete dann kühl, das sei eben so. Die Frau und ihr Mann hätten kein Anrecht auf die 1. Klasse. Einige Menschen um mich herum protestierten mit, die meisten in brüchigem Deutsch.
Wenn ich während einer Vorstellung erzähle, dass ich in Mexiko geboren wurde, kommen oft Witze oder Kommentare zu Drogenkartellen. In Mexiko wurden im Jahr 2021 (im Zusammenhang mit Drogenkriminalität?) über 30.000 Menschen ermordet. Ich finde solche Witze unangenehm und unangebracht. Wenn ich im Winter erzähle, dass mir kalt ist, höre ich oft, das sei so, weil ich aus Mexiko stamme. Ich lebe seit 2006 in Deutschland und habe neben mexikanischen auch deutsche Wurzeln. Ich friere nicht als Mexikanerin oder Deutsche, mir ist halt einfach kalt!
Ich erinnere mich noch an eine weitere Situation. Letzten Winter in Essen. Es war um die Mittagszeit an einem Samstag. Mein Freund und ich waren auf dem Weg in die Innenstadt. Ein obdachloser, alkoholisierter Mann stand an einer Bahnhaltestelle. Neben ihm ein paar jüngere Menschen. Als wir an der Haltestelle ankamen, taxierte er uns sofort. “He, Ausländer raus, geht da hin, wo ihr hergekommen seid!”, rief er und warf mit Glasflaschen auf uns, verfehlte uns aber. Ich hatte Angst, dass er uns doch noch treffen oder auf uns losgehen könnte. Eine Frau kam auf uns zu: “Ich bin Türkin, ihr auch? Wir müssen ja zusammenhalten, die Polizei ist gleich da”. Der Mann hielt dann zum Glück Abstand, die eintreffende Polizei nahm ihn schließlich mit.
Wünsche für 2023
Ich wünsche mir für 2023, dass sich mehr Menschen für andere stark machen und einsetzen. Oft sind es andere Menschen mit Migrationshintergrund, die in Extremsituationen zu Hilfe eilen. Ich habe mir sehr oft gewünscht, dass gerade die, die nicht betroffen sind, die Situation all dieser vielen Menschen sehen, verstehen und ändern möchten. Ich möchte keinen Stempel aufgedrückt bekommen und auch niemand anderes sollte sich wegen seiner oder ihrer Herkunft rechtfertigen erklären müssen.
Gefühle und Geschichten von Menschen sollten mehr zählen als Vorurteile. Statt Witzen wären für mich ehrlich gemeinte Fragen zur anderen Kultur oder Land viel schöner. Diskrimierung ist verletzend und oft schwer zu beschreiben. Diskriminierung passiert alltäglich und oft im Verborgenen. Deshalb wünsche ich mir auch mehr Einfühlungsvermögen.