Gründonnerstag: Adiós mit Torte und Kaktus

An einem Donnerstag vor zwei Jahren – nicht Gründonnerstag, sondern Vatertag – musste sich unsere Autorin plötzlich aus Bolivien verabschieden, liebgewonnene Personen zurücklassen – mit besonderen Abschiedsritualen.

Susanne Jutzeler auf Pixabay

Durch den Ausbruch der Corona-Pandemie bin ich in ein seltsames Pause-Stopp-Leben geraten. Nach meinem Freiwilligendienst in Bolivien einige Jahre zuvor zog ich im Herbst 2019 wieder dorthin zurück, um im Projektbüro der Franziskanerprovinz ein Praktikum zu machen und in meinem alten Freiwilligenprojekt „Hilando Sueños” zu helfen. Als sich das Virus im Frühjahr 2020 rasant ausbreitete, musste ich meine Arbeit in Bolivien abrupt beenden und in Deutschland wieder völlig neu beginnen. Der Abschied traf mich damals völlig unerwartet. Mittlerweile erinnere ich mich gerne und mit viel Dankbarkeit an mein letztes Essen in Bolivien.

Das Projekt „Fundación Hilando Sueños“ befindet sich in einer Vorprovinz der Großstadt Cochabamba im Andenhochland Boliviens. Die Zone heißt „Zona Sur“, genauer Santa Vera Cruz. Gesprochen wird hauptsächlich Spanisch, viele Kinder sprechen auch Quechua. Die Zona Sur ist für Armut und Kriminalität bekannt. Die Kinder, denen dort Unterstützung geboten wird, sind die Ärmsten der Ärmsten. Sie helfen zum Teil in den Autowaschanlagen, um ihre Eltern zu unterstützen. Hilando Sueños ist eine Hausaufgabenbetreuung und Kita. Zu den Aufgaben gehört auch, Essen zuzubereiten, die kleineren Kinder für die Schule vorzubereiten, auch abwechslungsreiche Freizeitaktivitäten zu planen und durchzuführen.

Nicht nur Kakteen wachsen

Als die Pandemie auch in Bolivien ankam, war mir und den anderen Freiwilligen aus Deutschland schnell klar, dass wir abreisen müssen. Der genaue Zeitpunkt dafür war noch unbekannt. Jeden Moment hätte es soweit sein können. Ich erinnere mich daran, dass ich mich wie gelähmt fühlte. Als die ersten Ausgangssperren angekündigt wurden, wusste ich, dass meine Abreise immer näher rückte. Es war für mich an der Zeit, auf Wiedersehen zu sagen, auf unbestimmte Zeit. Doch wie verabschiedet man sich richtig in einer solchen Situation? Am Abend vor meinem letzten Tag bastelte ich aus Papier und Lollis Schmetterlinge, für jedes Kind einen. Für die Mitarbeiter klebte ich auf meine geliebten Kakteen aus meinem Zimmer eine Botschaft "Muchas Gracias por hacerme crecer" – Vielen Dank, dass ihr mir beim Wachsen geholfen habt. Mir bedeuteten diese Pflanzen sehr viel, denn als ich nach Bolivien zog, waren sie die ersten Dinge, die ich für mich selbst kaufte. Die Pflanzen repräsentierten mein Zuhause und damit auch mich und waren so das Persönlichste, was ich den Mitarbeitern, die zu Freunden geworden waren, schenken konnte. Die Kakteen hatten auch noch eine tiefere Bedeutung, denn nicht nur sie sind während meines Aufenthaltes in Bolivien gewachsen, auch ich bin dank der Unterstützung der Menschen in dem Projekt über mich hinausgewachsen, habe gelernt, das Leben selbst zu meistern.

Truffi, Torte und Tränen

Am Morgen meines letzten Tages sammelte ich also die Pflanzen und Lollies ein und verließ meine Wohnung. Ich machte mich auf zum Projekt, um mich von den Mitarbeitern und Kindern zu verabschieden. Vorher ging ich noch auf den Markt, kaufte eine große Torte mit blauem Zuckerguss und fuhr zum letzten Mal in die Zona Sur, der südlichen Stadtgrenze. Zum letzten Mal in meinem Lieblings-Truffi, einer Art VW-Bus, der als öffentliches Verkehrsmittel genutzt wird. Als die Kinder die Torte sahen, wussten sie, das konnte nichts Gutes bedeuten, denn Torte gab es eigentlich nur an Weihnachten oder wenn jemand das Projekt verließ. Die Stimmung war gedrückt. Eigentlich war Vatertag in Bolivien – das Fest des Heiligen Joseph – und die Kinder hätten ihre Vatertagsgeschenke basteln sollen. Aber an dem Tag war das egal. Die Direktorin des Projektes bat mich, den Kindern zu erklären, warum ich die Torte mitgebracht hatte. Ihr hatte ich die Situation mit der angekündigten Rückholaktion der Bundesregierung bereits erklärt, ich wollte mich sicherheitshalber lieber rechtzeitig verabschieden.

Ich stellte mich vor die Kinder und blickte in ganz viele traurige Gesichter. Was sollte ich sagen? Am Abend davor hatte ich mir viel überlegt, ich wollte ihnen sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchten, dass sie jetzt mutig sein müssten. Aber vor allem wollte ich Danke sagen. Doch ich stand da und war sprachlos, mein Kopf schien leer und ich fühlte Verzweiflung und Trauer aufgrund meines so plötzlichen Abschieds. Auch spürte ich große Angst um all diese Menschen, die mir ans Herz gewachsen waren. Sie zurückzulassen, fühlte sich falsch an. Ich versuchte das zu sagen, was ich mir vorgenommen hatte und brach augenblicklich in Tränen aus. Mein Herz war gebrochen, in meinem Kopf formte sich nur der Gedanke, dass ich sie nicht verlassen wollte. Sofort kamen die Kinder und umarmten mich. Auch sie fingen an zu weinen. Ich spürte ganz viele kleine Hände an meinem Kopf, an meinen Schultern und am Rücken. Ich versuchte alle zu umarmen. In dem Moment sagten wir uns, ohne ein Wort, alles und viel mehr. Wir verabschiedeten uns so auf die ehrlichste Weise, die es gab: mit Umarmungen und Tränen. Ich würde sie alle sehr vermissen, mich um sie sorgen und auch mein Leben und Alltag in Bolivien würden mir fehlen. Aber vor allem spürte ich Angst. Würde ich alle je gesund wiedersehen? Was würde mit denen passieren, die sich keine medizinische Behandlung leisten könnten? Würden mich die Kinder vergessen? Was passiert jetzt mit meiner Zukunft?

Ein letztes Mal "Träume spinnen"

Eine Zeit lang verweilten wir so und dann ergriff die Direktorin das Wort. Auch sie weinte. Aber sie nahm sich zusammen. Ich erinnere mich nicht mehr genau an ihre Worte, aber an die Gefühle, die diese mir vermittelten: Wärme und Geborgenheit. Das Projekt, die Kinder und auch besonders die Direktorin hatten dafür gesorgt, dass ich mich dort wie Zuhause fühlte. Die Direktorin war über die Zeit zu einer meiner engsten Freundinnen geworden, hatte mich bei vielen Problemen und Schwierigkeiten unterstützt. Sie wurde mir in Bolivien zu einem Vorbild: dafür, mich für andere einsetzen, nie aufzugeben und immer an meinen Ideen und Träumen festzuhalten.

Innerhalb der nächsten Stunde erhielt ich nach und nach Abschiedsbriefe von den Kindern, die sie auf die Schnelle gebastelt hatten. Wir aßen gemeinsam Torte, aber das konnte keiner wirklich genießen. Ich überreichte den Mitarbeitern des Projektes und den Köchinnen, die mir jeden Tag mein Lieblingsessen gemacht hatten, meine Kakteen. Eine der Köchinnen ist eine Cholita, also eine Indigene. Sie hatte vorher nur selten offen ihre Gefühle gezeigt. Doch als ich ihr nun die Pflanze gab, umarmte sie mich, fing an zu schluchzen und auch ich musste weinen, denn ich spürte, wie sehr ich in dieses Projekt gehörte. Es war zu meinem Herzensprojekt geworden, das ich jetzt verlassen musste. Ich gab meine Schlüssel ab und ging zum Ausgang. Ich drehte mich um. Dort standen die Mitarbeiter und die Köchinnen, vor dem kleinen Haus des Projektes Hilando Sueños, was auf Deutsch übersetzt “Träume spinnen” heißt. Alle weinten und winkten mir zu. Ich winkte zurück und unterdrückte die Tränen, versuchte zu lächeln, stark zu sein, um eine letzte schöne Erinnerung zu haben. Dann schloss ich zum letzten Mal das orangene Stahltor des Projektes hinter mir. Ein letztes Mal mit dem Truffi vom Stadtrand in die Stadt, über den Markt und durch das Zentrum zum Prado, der Hauptstraße in der Innenstadt. Inzwischen sah ich viele Menschen mit Mundschutz.

Neu anfangen

Nach dieser Verabschiedung in Bolivien war es sehr schwer für mich, in Deutschland Fuß zu fassen und zu akzeptieren, dass ich erstmal nicht mehr in mein Herzensprojekt zurückkehren würde. Heute, mit etwas Abstand zu meinem letzten Tag im Hilando Sueños, bin ich sehr dankbar für meine Zeit dort, denn mit den Erfahrungen aus Bolivien konnte ich mir in Deutschland wieder selbständig etwas aufbauen. Mit dem Ortswechsel traten viele Veränderungen in mein Leben: Wohnort, Essen, Kultur, Gesellschaft, Freunde, Arbeit. Veränderungen, für die ich sehr dankbar bin. Und dennoch, seit meinem Abschied 2020 muss ich immer, wenn ich eine Torte sehe, an meine viel zu süße, hellblaue Abschiedstorte denken.