Der öffentliche Umgang mit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin zeigt, warum Millennials und andere junge Erwachsene kaum Leitungsverantwortung übernehmen wollen: Die Alten und Etablierten ignorieren nicht nur die Werte und Anliegen der jüngeren Generationen, sondern verwenden sie inzwischen offen gegen uns. Die Politik hört nicht auf die Jüngeren, sie ist jugendverdrossen – nicht umgekehrt.
Guido Sutthoff (photography), Annalena Baerbock (full rights of use), CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Unerfahren, zu jung, zu weiblich, zu schwach, wie soll das gehen mit der Kindererziehung, geschönter Lebenslauf, vergessene Nebeneinkünfte, absurde Plagiatsvorwürfe. Die überzogenen Angriffe auf persönliche, nicht politische Nebenschauplätze, erinnern in ihrer Art doch merklich an Trumps Schmutzwahlkampf gegen Hillary Clinton. Man wundert sich, dass bei Baerbock noch keine dienstlichen E-Mails auf ihrem privaten Konto gefunden wurden. Wenn Politiker:innen wegen fehlender eigener Konzepte und Medienvertreter:innen mangels inhaltlicher Kritikpunkte die grüne Kanzlerkandidatin mit gehässigen, frauenfeindlichen und demütigenden Äußerungen überziehen, bleibt das nicht ohne Wirkung auf Jugendliche und junge Erwachsene. Diese Art des Wahlkampfs sei zwar armselig, twitterte Sigmar Gabriel, doch so sei Politik nun einmal, damit müsse man eben umgehen können. Aber wieso wird dieser Umgang in der Politik eigentlich für normal gehalten, warum muss es angeblich so zugehen? Gehört es etwa zum sozial-, frei-, christdemokratischen oder grünen Werte-Universum, Menschen persönlich fertigzumachen, die sich für das Allgemeinwohl, für eine bessere Zukunft engagieren wollen?
Faire Kommunikation statt Abwertung von Personen
Allenthalben wird bemängelt, Jugendliche und junge Erwachsene engagierten sich nicht genügend in der Politik. Tun sie es dann, wird politisch und medial legitimiert, ihre inhaltlichen Anliegen vergessen zu machen, indem man nicht nur ihre Intention, sondern ihre ganze Person oder ihr Geschlecht abwertet, sogar ihre psychische Gesundheit infragestellt – wer sich nicht recht erinnern mag, denke nur an den Umgang mit den Klimaaktivistinnen Greta Thunberg oder Luisa Neubauer. Je nach Definition gehört Annalena Baerbock, geboren 1980, noch ganz knapp zu den ältesten Mitgliedern der Millennials, geboren zwischen den frühen 1980er- und späten 1990er-Jahren, auch Generation Y genannt. Warum sollten sich Jugendliche bis 25-Jährige in zehn oder 15 Jahren im Politikbetrieb engagieren wollen, Leitungsämter besetzen wollen, wenn sie heute nicht nur erleben, wie ihre eigenen politischen Forderungen lächerlich gemacht werden, sondern auch noch beobachten, wie mit einer 40-jährigen Annalena Baerbock umgegangen wird? Eine solche unverhohlene Abwertung ihrer Person gehört für die jüngeren Generationen nicht mehr zum normalen Umgang, den man aushalten können muss. Zudem wertet die Kritik an Personen auch immer deren Anliegen mit ab, also auch die Interessen und das politische Engagement, den Aktivismus der Jungen. Sie fühlen sich zurecht mit angegriffen, selbst wenn sie gar nicht Baerbock wählen, ihre politischen Ansätze nicht im Ganzen oder gar nicht teilen. Baerbock steht als einzige der Kanzlerkandidat:innen für die jüngeren Leute und für die von ihnen selbstverständliche und erwartete Weise einer fairen, offenen Kommunikation.
Gerade junge Menschen, die sich für das Allgemeinwohl und eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten engagieren, werden persönlich angegriffen. Warum sollte eine den Wohlstand der älteren Generationen erhaltende, das Klima schädigende Politik auf dem Rücken der Jüngeren ausgetragen werden – und zwar nicht mittels besserer inhaltlicher Konzepte und Argumente, sondern mit einer persönlich abwertenden und lächerlich machenden Kommunikations- und Medienkultur? Ist es für unsere Eltern- und Großeltern-Generation angesichts eines solch erbärmlichen Debatten-Niveaus wirklich so schwierig zu verstehen, warum unsere Altersgruppe sich nicht in dieser Parteipolitik einbringen, geschweige denn in Leitungsverantwortung gehen will? Die Fragen stellen sich übrigens nicht nur für den Politikbetrieb, sondern auch für die Chefpositionen in Unternehmen und anderen Institutionen.
Emotionen und Schwächen normalisieren
Millennials, Generation Z sowie die Fridays-for-Future-Generation wünschen sich selbstreflektierte und selbstkritische sowie gewaltlose Sprache, offenen Umgang mit und Wertschätzung für Emotionen. Eigene Schwächen zu zeigen und zu benennen, halten wir für wünschenswert und normal. Natürlich sind auch Fridays-for-Future- und andere junge politische Aktivist:innen nicht davor gefeit, sich polemisch zu äußern oder politische Gegner:innen oder Lobby-Vertreter:innen manchmal persönlich anzugreifen. Sie sollten das möglichst vermeiden und besser machen. Die Älteren, ihre politischen Vertreter:innen und medialen Fürsprecher müssen sich aber fragen, wer uns diese Art von Kommunikation vorgemacht, beigebracht hat und nach wie vor vorlebt. Denn so wie sich auch junge Klima-Aktivist:innen gegenwärtig noch gar nicht zu 100 Prozent restlos klimaneutral und plastikfrei verhalten können, weil das in der Welt, die unsere Eltern und Großeltern erschaffen und in die sie uns hinein geboren haben, gar nicht möglich ist, so wird es auch uns Jüngeren nicht eben leicht gemacht, uns unseren hohen Ansprüchen entsprechend immer kommunikativ perfekt zu verhalten. Aber immerhin stehen sie für politische Forderungen, für ihre Zukunft und die des Planeten, sie formulieren ihre Wünsche an Umgangsformen und Kommunikation.
Das eher verständnisvolle, empathische, von Selbstreflexion und Vorsicht geprägte rhetorische Verhalten der Jüngeren, womöglich noch ihre von manchen als vermeintlich besonders „weibliche“ bewertete Art der Konfliktbewältigung werden ihnen dann erst recht als Schwächen ausgelegt. Aber gerade diese sensible Form von Kommunikation, das Eingestehen von Fehlern – ob jung, alt, erfahren oder unerfahren – sollte niemandem als charakterliche Schwäche oder gar als Leitungsversagen um die Ohren gehauen werden. Die politischen Gegner dürfen anscheinend auch noch bestimmen, wie die Beschimpften auf ihre verbalen Übergriffe reagieren müssen. Wer in der Kommunikation auf Fairness setze und die Angriffe nicht so abwehre, wie die Angreifenden sich es wünschen, könne in dieser Politikwelt eben nicht bestehen. Selbst ihre eigene Partei schützt Baerbock ja nicht vor den Angriffen, und so schreiben inzwischen nicht nur große konservative Zeitungen sie ab, auch ein traditionell eigentlich als links und feministisch bekanntes Leitmedium wünscht sich nun doch Robert Habeck als Kandidaten, mit Krokodilstränen wegen des Rückschlags „für die Sache der Frauen“, aber Baerbock sei ohnehin nur über die Quote zur Kandidatin geworden.
Kaum politisches Interesse für Anliegen der Jüngeren
Aber nicht nur in ihrem Kommunikationsstil, auch inhaltlich werden junge Erwachsene politisch nicht ernstgenommen. Die Corona-Krise hat neben der Klimakrise einmal mehr gezeigt, dass die elementaren Anliegen und Bedürfnisse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die überwältigende Mehrheit der Älteren in unserem Land keine Priorität haben – und das, obwohl die jungen Leute ihre Themen öffentlich wahrnehmbar auf die Straße tragen und einbringen, wie jüngst die Studentin Tabea Engelke bei Markus Lanz analysierte. Überbrückungshilfen für Studierende wurden viel zu spät gezahlt, Großraumbüros sind wieder offen, die Home Office-Pflicht wurde wieder aufgehoben. „Und ich kann nicht mal mit 15 Menschen meinen Französischunterricht machen“, so Engelke. Obwohl viele der Studierenden ihres Fachs schon geimpft seien, hätten sie noch immer Onlineunterricht, so die 21-Jährige.
Gute Bildung sei das Wichtigste, das haben Politik und Eltern uns eingebläut, und doch gibt es seit 16 Monaten keine Bildungskonzepte, die über Zoom-Meetings hinausgehen. Millennials sind zwar überragend gebildet, trotz Bildung aber finanziell und beruflich deutlich schlechter aufgestellt als ihre Eltern. Und Stichwort Bildung: Wer sorgt eigentlich für die emotionale Intelligenz, für kommunikative Bildung der Älteren?
Leitung braucht Soft Skills der Jüngeren
„Die nächste Generation muss jetzt ran!“, sagte Thomas de Maizière bei Markus Lanz. Seine große Sorge sei, dass sich immer weniger junge Menschen für die Politik engagierten. Die Wahlbeteiligung sei niedriger, die Mitgliedschaft in Parteien nehme ab. Die Studentin Tabea Engelke entgegnete, das klinge, „als wenn die Jugend politikverdrossen sei.“ Trotz des wahrnehmbaren politischen Engagements der Jungen verschöben sich die Inhalte der Parteien nicht. „Wenn die Themen, die brennend sind, nicht im Parteiprogramm stehen, gehe ich nicht in eine Partei“, sagte sie. Es fällt leicht, ihrer Schlussfolgerung zuzustimmen: „Die Politik ist jugendverdrossen.“ Solange junge Menschen mit ihren Wünschen nach gelingender, wertschätzender Zusammenarbeit ignoriert, sogar wegen ihrer „Soft Skills“ wie Selbstreflexion und Kommunikation von Älteren belächelt oder verachtet werden, werden sie jedenfalls nicht vermehrt in Leitungspositionen gehen oder in Parteien eintreten.