Der plötzliche Digitalisierungsschub an den Hochschulen birgt die Gefahr, ein falsches Verständnis von Bildung zu idealisieren, ähnlich wie Teile der Bologna-Reformen. Akademische Lehre muss mehr bieten als die bloße Aneignung von Wissen, etwa informellen Austausch und persönliche Begegnungen. Anderenfalls leidet langfristig die öffentliche Debattenkultur.
Wir gewöhnen uns in der Pandemie an kurzfristiges Denken. Die Nachrichten berichten tagesaktuell von neuesten Fallzahlen, während die Politik im Wochentakt neue Maßnahmenpakete verkündet. Es gehe darum,das Infektionsgeschehen „jetzt“ zu bremsen, weil es morgen schon zu spät sein könnte. Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern eigentlich schon viel zu spät. Wir denken wie Reisende, die Angst haben, ihren Anschlusszug zu verpassen.
Die meisten Bereiche des sozialen Lebens funktionieren jedoch nicht „just-in-time“. Vielmehr sind die Ergebnisse getroffener Entscheidungen erst langfristig beobachtbar. So mag es zunächst unproblematisch erscheinen, dass etwa die Universitäten im Oktober 2020 noch weit vom üblichen Normalbetrieb entfernt sind. Schließlich gilt es, die Pandemie „jetzt“ auszubremsen – und der allerorts beobachtbare Digitalisierungsschub wird von Kultusministerien, Hochschulleitungen und Exzellenzinitiativen tendenziell sogar begrüßt. Vorlesungen im Videostream, Seminare per „Zoom“-Konferenz und Nudeln mit Pesto im Home Office statt einstündigerMensa- und Kaffeepause: Das ist heute der Alltag für Deutschlands zukünftige akademische Elite. Diese Situation lässt sich kurzfristig sicherlich aushalten, aber die langfristigen Folgen sollten wir nicht unterschätzen.
Studieren, essen, Sport machen – nur noch zuhause
An der Uni Frankfurt ist kürzlich eine Petition erschienen, die die Rückkehr zum Präsenzbetrieb und die Erarbeitung eines entsprechenden Hygienekonzepts fordert. Die Initiator:innen argumentieren vor allem mit dem sozialen und ökonomischen Druck, der momentan auf der Studierendenschaft lastet. Die große Mehrheit der Immatrikulierten berichtet in Umfragen von Zukunfts- und Existenzängsten, ökonomischen Sorgen und häufig auch von psychischen Erkrankungen. Das verwundert nicht, sind es während des Lockdowns doch gerade die Gelegenheits- und Nebenjobs, die als erste gestrichen werden. Auch wohnen Studierende häufig nicht gerade im Einfamilienhaus mit Garten, sondern oft in kleinen Wohnungen oder WG-Zimmern, sodass es in Zeiten des verordneten „Home Office“ nicht selten vorkommt, dass sie in ein und demselben Raum arbeiten, essen, schlafen, Wäsche trocknen und Sport machen. Wenn neben den Cafés also auch die Bibliotheken schließen und man nicht einmal zum Mittagessen in die Mensa gehen kann, überrascht es nicht, dass der Druck zunimmt.
Cafés sind mittlerweile wieder eingeschränkt geöffnet, ebenso Schlachtbetriebe, Fitnessstudios und Schulen. Nur die Universitäten tun sich mit jedem Öffnungsschritt erstaunlich schwer, vor allem mit der Präsenzlehre. Sicher herrscht öffentlicher und medialer Druck, aber erklären lässt sich diese Zögerlichkeit nur mit einem Interesse: Mittelfristig soll der Unibetrieb zunehmend digitalisiert, damit standardisiert und gegebenenfalls auch internationalisiert werden. Man soll sich locker per Zoom in Kolloquien einklinken und die verpasste Vorlesung nochmal im Podcast nachhören können. Vielleicht hofft man auch, damit langfristig die eine oder andere Stelle einzusparen.
Mann’sches Bildungsideal in Gefahr
Bildung, um die es in Bildungsinstitutionen ja geht – auch wenn man das bei all dem Recruiting und den Multiple Choice-Klausuren leicht vergisst, ist jedoch mehr als die kurzfristige Vermittlung von Wissen. Eigentlich ist sie sogar etwas völlig anderes. Es geht darum, dass junge Menschen in einem langfristigen Prozess des Wachsens und Lernens zu Erwachsenen werden, die sie vorher nicht waren. Nicht umsonst ziehen in den Bildungsromanen des 19. und 20. Jahrhunderts die Helden immer hinaus, um im Gespräch mit verschiedenen Menschen Positionen kennenzulernen, im Streit ihre Argumente zu schärfen und wechselnden Lehrern und Vorbildern nachzueifern.
In Thomas Manns „Zauberberg“ ist der junge Hans Castorp hin und her gerissen zwischen dem strahlenden Aufklärer und Humanisten Settembrini, der ihn an die Hand nimmt, um ihn mit seiner Utopie des Vernunftstaats sowie den exakten Wissenschaften vertraut zu machen, und dem schrulligen kommunistischen Jesuiten Naphta, die sich beeindruckende Wortgefechte liefern. Mal dem einen, mal dem anderen zugeneigt, wächst in Castorp das Interesse, wo nicht schon gleich der Geist. Dasselbe passiert heute bestenfalls auch an Universitäten, wenn beim Kaffee nach der Vorlesung diskutiert oder die Professorin, die immer so kompliziert spricht, allein ihrer Aura wegen bewundert wird.
Wenig Nachdenken, viel Verschulung
Mehr als das Wissen selbst gehört zum Bildungsprozess der Umgang mit Wissen, die politische Einordnung und die Schärfung des Arguments. Bereits die Bologna-Reformen haben die Bildung an Hochschulen vielerorts in eine andere Richtung bewegt, haben zur Verschulung der Lehre und zur teilweisen Infantilisierung der Studierenden beigetragen. Diese Entwicklung schlägt sich auch kulturell nieder, nämlich im wahrnehmbar sinkenden Niveau öffentlicher Debatten, Argumentationsmuster und der schwindenden Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz.
Eine mit Verweis auf die Virus-Pandemie gerechtfertigte quasi „Blitzdigitalisierung“ der Hochschulen könnte solche Entwicklungen noch verstärken. Dazu noch eine Beobachtung: Papst Franziskus warnte unlängst vor einer globalen „Bildungskatastrophe“, weil infolge der weltweiten Lockdowns Millionen Kinder nicht zur Schule gehen können. Es ist bereits ein Symptom mangelnder politischer Urteilskraft, die schwerwiegenden Folgen nicht absehen zu können, nicht nur für die Kinder, sondern für die Gemeinschaften, die sie später lenken sollen. Die Warnung des Papstes kann ergänzt waren: Auch an den Universitäten droht eine Notlage.