Mit „Fratelli tutti“ hat Papst Franziskus seine bisher „politischste Enzyklika“ vorgelegt, darin sind sich die Kommentatoren einig. Und in vielen Punkten liest sich die Enzyklika „Über die Geschwisterlich-keit und die Soziale Freundschaft“ tatsächlich als der erhoffte „Schritt nach vorne“. Ist sie aber gleichzeitig auch ein „Schritt zurück“? Papst Franziskus möchte mit seiner „Sozialenzyklika“ einen „Dialog mit allen Menschen guten Willens“ führen. Aber kann dies gelingen? Der Versuch einer Annäherung.
„Fratelli tutti“ ist für die Leserinnen und Leser zuweilen keine „leichte Kost“. Aber weniger wegen der Sprache und den zahlreichen (Selbst-) Zitate des Heiligen Vaters, sondern vor allem wegen der Klarheit der Aussagen. Papst Franziskus rechnet mit der modernen Gesellschaft ab, die durch die neuen Formen der „zivilisierten“ Barbarei „entmenschlicht, krank und verwundet“ ist (Kapitel 1). Die Gesellschaft steht am Scheideweg und steht wie in der biblischen Erzählung des „Barmherzigen Samariters“ vor der Wahl: Weitergehen oder Stehenbleiben und Helfen (Kapitel 2). Dabei ist die Antwort für Papst Franziskus klar: Aus der „universellen Liebe Gottes“ (Kapitel 3) lässt sich nur eine offene Welt - ohne Mauern, ohne Grenzen, ohne Ausgeschlossene und Fremde - ableiten. Ebenso wie ein „offenes Herz“ (Kapitel 4) zu einer „universellen Geschwisterlichkeit“ führe und damit so-ziale Freundschaft, moralische Güte und soziale Ethik bedinge. An diesen beiden Polen „offene Welt“ und „offene Herzen“ muss sich aus Sicht des Heiligen Vaters die „beste Politik“ messen las-sen. Hier legt Papst Franziskus die Maßstäbe an, mit denen er kritisch mit den Akteuren in Politik und Medien ins Gericht geht. Auch wenn keine Namen genannt werden, lesen viele amerikanische Katholikinnen und Katholiken aus dem Kapitel 5 eine Kritik am derzeitigen US-Präsidenten. Die En-zyklika macht deutlich: Nur durch „Dialog“ (Kapitel 6) und „Begegnung“ (Kapitel 7), die auf Freund-lichkeit, Akzeptanz und Respekt beruhen kann eine „bessere Politik“ erreicht sowie „der Weg zu Vergebung und Frieden“ gefunden werden. Und dieser Weg kann nur dann erreicht werden, wenn „die Religionen zum Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt“ aufgerufen werden (Kapitel 8). Das verbindende Element der Religionen ist dabei der Mensch „als Geschöpf Gottes“, der in einer „Beziehung der Geschwisterlichkeit“ alle Menschen als Brüder und Schwester akzeptiert.
Mit der dritten Enzyklika betritt Papst Franziskus Neuland: Es ist die erste Enzyklika, bei der ein Papst einen anderen Religionsvertreter, Ahmad Al-Tayyeb, als „Anregung“ für die Entstehung von „Fratelli tutti“ benennt. Gemeinsam mit dem Großimam von Al-Azhar hat der Papst im Februar 2019 das viel beachtete Dokument „Über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zu-sammenleben in der Welt“ verfasst. Jetzt findet dieses – wie viele Ansprachen und Dokumente von Papst Franziskus aus den letzten Jahren – Einzug in eine päpstliche Enzyklika. Damit „fixiert“ der Heilige Vater diese Positionen für die Gläubigen, aber sicherlich auch für seine späteren Nachfolger auf dem Stuhl Petri.
Kritik am (Sozial-) System
Gleichzeitig bezieht Papst Franziskus an vielen Stellen sehr deutlich Stellung zu politischen Themen, wie beispielsweise die Rolle der Vereinten Nationen oder die Ablehnung der Todesstrafe. Fast scheint es so, als wolle Papst Franziskus verdeutlichen: Als katholische Kirche können wir – unserer eigenen Fehler und Missstände zum Trotz – auch in einer säkularisierten Welt noch einen wichtigen Beitrag leisten. Aber nur, wenn die Menschen sich am Beispiel des „Barmherzigen Samariters“ ori-entieren und ihr Wirtschafts- und Sozialsystem ändern. Nach der „Umwelt“-Enzyklika „Laudato si“ möchte Papst Franziskus mit dieser „Sozial“-Enzyklika wohl verdeutlichen: Es ist fünf vor Zwölf, wir müssen handeln. Denn dazu ruft der Heilige Vater auf. Und dies ohne Kompromisse und Zuge-ständnisse für eine „neoliberale Wirtschaft“. Auch wenn Papst Franziskus die Grundzüge der „so-zialen Marktwirtschaft“ nicht aufgibt und der „Soziallehre der Kirche“ folgt, rüttelt er doch kräftig am bestehenden System. Er bezeichnet sowohl den „Populismus“ als auch den „Wirtschaftslibera-lismus“ als „unfähig, ein soziales Zusammenleben zu fördern, in dessen Mittelpunkt die unantast-bare Würde eines jeden Menschen steht (…)“. Und gerade dies ist eine der größten Stärken von „Fratelli tutti“, die wie kaum eine andere Enzyklika klare politische Akzente gegen Armut, Ausgren-zung und Ungerechtigkeit setzt.
Ruf nach Reformen – auch in der Kirche
Beide oben genannte Punkte können als „Schritt nach vorne“ gewertet werden, aber es gibt auch Punkte, die in der Enzyklika als einen möglichen „Schritt zurück“ gedeutet werden (können): Bereits im Vorfeld war viel über den „maskulinen“ Titel „Brüder“ des Werkes diskutiert worden. Und auch nach der Veröffentlichung wurde die Kritik über die Rolle der Frauen in der Enzyklika im-mer lauter. Auch wenn Papst Franziskus in früheren Schriften immer wieder die große Bedeutung von Frauen für Kirche und Gesellschaft betont hat und in der Enzyklika ausführt, dass „Frauen die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie die Männer haben“ (Fratelli tutti, Nummer 23), wurde hier eine mögliche Chance ausgelassen, die besondere Rolle der Frauen in Kirche, Politik und Ge-sellschaft zu betonen. Es wäre auch eine Anerkennung von Bewegungen wie „Maria 2.0“ gewesen, die als Frauen – berechtigterweise - eine stärkere Rolle in der Kirche einfordern. Gleichzeitig be-feuert die klare Kritik von Papst Franziskus am (Sozial-) System die Forderung nach Reformen, auch in der Kirche. Die Initiative „Wir sind Kirche“ aus Deutschland und Österreich fordert beispielsweise einen „Perspektiv- und Handlungswechsel auch in der katholischen Kirche“ und die kfd Deutsch-land betont: „Bei aller Wertschätzung für die Entschiedenheit in den programmatischen Linien der Enzyklika nach außen vermissen wir doch auch selbstkritische Ausführungen im Blick auf die innere Verfassung der Kirche.“
Auch die starke Kritik von Papst Franziskus an allem, was heute in der Gesellschaft und in Medien „modern“ und „technologisch“ ist, verwundert manche Leserinnen und Leser. Während Papst Be-nedikt XVI. zwar den mahnenden Zeigefinger erhob, aber stärker auf die positiven Errungenschaf-ten des Web und der Sozialen Medien für die Evangelisierung setzte, verdeutlichen die Worte von Papst Franziskus hier mehr Abstand und Distanz. Vielleicht ist dies aber auch seiner „außereuropäi-schen Sicht“ geschuldet, die die Rechte und die digitalen Möglichkeiten der Armen und der Frem-den stärker in den Fokus rückt. Der Heilige Vater kritisiert alles was „unmenschlich, gewalttätig, erniedrigend und ausschließend“ ist. Ob dies auch die digitalen Medien sind, wird man am 21. Mai 2021 sehen, wenn Papst Franziskus erstmals den „Tag der Sozialen Kommunikationsmittel“ ausge-rufen hat.
Insgesamt verschiebt „Fratelli tutti“ den Fokus stärker in die Weltkirche und auf das Zusammenwir-ken der Religionen, um die „unveräußerliche Würde“ eines jeden Menschen zu schützen. Das ist das Kernthema der dritten Enzyklika von Papst Franziskus. Und das ist abschließend eine gute Nachricht!
Empfehlung zum Nach- und Weiterlesen…
Die Enzyklika kann im Wortlaut nachgelesen und als Broschüre (vor-) bestellt werden.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat zudem eine Sonderseite zu „Fratelli tutti“ eingerichtet.
Der Autor ist Dipl. Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt Politik / Medien) und arbeitet als freier Jour-nalist. Er leitet die Resorts „Kirche“ und „Medien“ bei unserem Partnerportal explizit.net