Jesus hat sich nicht mit Gewalt gegen seine Mörder gewehrt. Auch Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, die Geschwister Scholl und viele andere Widerstandskämpfer des Dritten Reichs sind als gewaltfreie Menschen misshandelt oder ermordet worden, weil sie für Gerechtigkeit gekämpft haben. Gewaltfreier Widerstand und Protest sind vorbildlich und bewundernswert. Wer gegen strukturelle Gewalt am eigenen Leib protestiert, wird aber nicht automatisch unglaubwürdig, wenn es im Kontext der Proteste auch zu Gewalt kommt.
Die Geschichte kennt und verehrt große gewaltfreie Vorbilder, etwa Jesus, viele christliche Martyrer, den schwarzen Freiheits- und Widerstandskämpfer Martin Luther King, den indischen Friedens- und Unabhängigkeitsaktivisten Mahatma Gandhi oder den südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Präsidenten Nelson Mandela. Sie alle setzten sich gewaltfrei gegen strukturelle Gewalt und Unterdrückung ein. Bei einigen Vorbildern des gewaltfreien Widerstands war jedoch gerade ihre Gewaltlosigkeit die Provokation für ihre Mörder oder Misshandler. Viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger, Jüngerinnen und Jünger folgten ihrem Beispiel. Aber bei weitem nicht alle.
Gewalt und Glaubwürdigkeit
Petrus zieht am Ölberg sein Schwert gegen die Soldaten, die Jesus festnehmen wollen. Zeloten und Essener kämpften durchaus mit Waffengewalt und geradezu terroristisch dafür, die römische Besatzung und Unterdrückung zu beenden, sowohl vor Jesu Lebzeiten als auch währenddessen und danach. In der schwarzen Bürgerrechtsbewegung war Martin Luther Kings gewaltfreier Widerstand gegen das rassistische System in den USA eher die Ausnahme. Andere, wie Malcolm X, waren nicht kategorisch gewaltlos in ihrer Art des Protests.
Die Botschaft Jesu ist nicht global unglaubwürdig geworden, obwohl seine Jüngerinnen und Jünger über 2.000 Jahre bei weitem nicht immer gewaltfrei handelten. Gandhis Lebenszeugnis bleibt das größte Vorbild für friedliche Widerstandskämpfer, obwohl nach seinem Tod Gewalt ausbrach und Pakistan von Indien unabhängig wurde. In geplante Mordanschläge auf Hitler waren auch als gewaltfrei geltende Widerstandskämpfer wie Dietrich Bonhoeffer zumindest eingeweiht und stimmten nicht kategorisch dagegen. Und auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung wird nicht unglaubwürdig durch Vertreter wie Malcolm X, der nicht die völlig gewaltlose Linie von Martin Luther King mittrug.
„Es hätte mein Auto sein können. Ausländer besitze ich keine.“
Ein Ende von Gewalt kann nicht immer unbedingt nur mit gewaltfreien Mitteln erreicht werden. Zudem handelt es sich bei der Gewalt, über die momentan in den USA am Rande von Protesten oder durch Protestierende berichtet wird, vor allem um Sachbeschädigungen oder Diebstähle, in den allerseltensten Fällen um Körperverletzungen und nicht um Tötungen. Anders die Formen der Gewalt, gegen die die Protestierenden auf die Straße gehen: Gewalt gegen Menschen, oft schwere Körperverletzungen und Morde an Unbewaffneten, friedlichen Bürgerinnen und Bürgern, nicht selten durch Polizei, also die Exekutive des Staats. Oft handelt es sich übrigens bei den gewalttätigen Ausschreitungen am Rand von Protesten um Trittbrettfahrer, die die Stimmung und die Proteste auf den Straßen missbrauchen, um beispielsweise Läden zu plündern. Es gibt also unterschiedliche Typen von Gewaltausübenden, sarkastisch zugespitzt: „Die einen zünden Ausländer an, die anderen Autos. Und Autos anzünden ist schlimmer. Denn es hätte mein Auto sein können. Ausländer besitze ich keine.“ (Kling, Die Känguru-Offenbarung, Ullstein, 2014).
Antifa, Trittbrettfahrer und Fake News
Dass es gewalttätige Trittbrettfahrer gibt, darf aber für die friedliche Mehrheit der Protestierenden kein Grund sein, nicht zu protestieren. Zudem tauchen in der Berichterstattung auch viele Falschmeldungen und Fake News auf: So hatte eine rechtsradikale Gruppierung sich auf Facebook als „Antifa_US“ bezeichnet und vorgeblich im Namen von antifaschistischen Aktivisten zu Gewalt aufgerufen. Gleichzeitig ist der US-Präsident im Begriff, die Antifa in den USA zu verbieten. Man fühlt sich an den durch die Nazis inszenierten Reichstagsbrand erinnert, der zur Legitimation der systematischen Verfolgung von Kommunisten im Dritten Reich diente. Die US-Bundespolizei FBI berichtet zeitgleich, dass von der echten Antifa keine Gewalt ausgehe. Indes geht die Polizei in den USA gegenwärtig sogar gegen gewaltfreie Demonstrierende mit Gewalt vor, unter anderem mit Tränengas, im Auftrag der Exekutive, deren Präsident währenddessen das Evangelium der Gewaltlosigkeit in die Kamera hält.
Polizei-Training: „Ich bin 8 Jahre alt und unbewaffnet“
Schwarze und andere sogenannte „People of Color“ (PoC) erfahren kollektiv und in vielen Fällen auch individuell regelmäßig strukturelle rassistische Gewalt. Auch und gerade dann, wenn sie sich selbst gewaltlos verhalten. Nicht nur in den USA, aber dort momentan besonders offensichtlich. George Floyd, dem ein Polizist fast neun Minuten sein Knie in den Hals drückte und ihn dadurch ersticken ließ und ermordete, hatte keine Gewalt angewendet. Viele schwarze Menschen und PoC werden in ihrem Alltag regelmäßig wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert, angefeindet, benachteiligt, beleidigt, denunziert sowie körperlich und mit Waffengewalt angegriffen und getötet. Das geschieht sowohl durch Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch durch Polizistinnen und Polizisten. Schwarze Eltern üben schon mit ihren kleinen Kindern ein, wie diese im Falle einer Begegnung mit der Polizei reagieren sollen: die Hände heben, laut und deutlich den Namen und das Alter sagen, und vor allem, dass man unbewaffnet sei und nicht die Absicht habe, den_die Polizist_in zu verletzen.
Teufelskreise: Diskriminierung und Kriminalität
Schwarze und PoC gelten als generell verdächtig, werden für krimineller und gewalttätiger gehalten als weiße Menschen. Das ist eine Folge Jahrhunderte alter und noch immer andauernder Ideologien. Dass diese Annahmen immer noch in den Köpfen bleiben, hängt mit einem Teufelskreis zusammen: Weil nicht-weiße Menschen für minderwertig, kriminell, gewalttätig gehalten werden, bekommen sie nicht dieselben Chancen auf Ausbildungen, Studiengänge, Arbeitsplätze, Wohnungen, Mitgliedschaften in Krankenversicherungen und viele andere, für weiße Menschen selbstverständliche gesellschaftliche Teilhabe und Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen. Nicht selten werden behördliche Genehmigungen nicht erteilt, Wartezeiten für Führerscheine, Reisepässe und Ausweise verlängert. Manche Statistiken und Studien legen tatsächlich nahe, dass es einen höheren Anteil von Kriminalität unter nicht-weißen Menschen gibt. Wer aber strukturell benachteiligt und diskriminiert wird, wem regelmäßig, auch vom Staat erschwert wird, Zugang zu den für ein gelingendes Leben notwendigen Ressourcen zu erhalten, der oder die gerät leichter in Verhältnisse, in denen man sich unter Umständen mit mehr oder weniger kriminellen Handlungen behilft, um für das eigene Überleben oder das der eigenen Familie zu sorgen.
Mit „White Privilege“, den Privilegien ein_e Weiße_r zu sein, ist übrigens gleichzeitig nicht gemeint, dass weiße Menschen keine Probleme hätten, dass sie nicht auch aus einer Vielzahl von Gründen strukturell benachteiligt würden, sondern „White Privilege“ bedeutet, dass Weiße jedenfalls nicht durch ihre Hautfarbe regelmäßig, systematisch (weitere) Diskriminierung oder Probleme erleben müssen.
Gewaltfreie haben nicht automatisch Recht
Gewaltfrei Protestierende haben nicht automatisch mit allen ihren Forderungen Recht, nur weil sie gewaltfrei vorgehen. Gleichzeitig haben Opfer von Gewalt, die gegen die ihnen angetane Gewalt und für die Anerkennung ihres Leidens sowie für Gerechtigkeit protestieren, nicht automatisch Unrecht, wenn einige von ihnen ihrem Zorn, ihren Schmerzen und der teilweise im kollektiven Gedächtnis über Jahrhunderte ausgehaltenen Unterdrückung Ausdruck verleihen. Weder wird durch das Anwenden der Gewalt die zuvor durch ihre Unterdrücker angewendete Gewalt im Nachhinein richtig, noch werden ihr Schmerz, werden ihre Argumente oder ihr Protest dadurch zunichte oder wertlos gemacht.
Vollständige Gewaltlosigkeit ist deswegen keine absolute Voraussetzung für die Legitimität des Protests und für die Argumente der Protestierenden. Die Motivation für den Protest besteht ja gerade im Sichtbarmachen der über lange Zeit erfahrenen Gewalt. Das heißt nicht, dass der Protest notwendig mit Gewalteinsatz der Protestierenden stattfinden muss. Man kann gleichzeitig nicht von jedem Protestierenden erwarten, dass er oder sie die durch Gewalt zugefügten psychischen Verletzungen als Opfer bereits soweit innerlich aufarbeiten konnte, um den eigenen Protest dann äußerlich gewaltlos durchzuführen.
Training: das innere Petrus-Schwert wegstecken
Für Menschen, die gewaltfrei protestieren oder blockieren wollen, gibt es nicht umsonst umfangreiche Trainings, die sich unter anderem mit körperlichen Strategien befassen, etwa damit die Polizei die Protestierenden möglichst schmerzfrei wegtragen kann. Es geht bei solchen Übungen aber auch darum, sich der eigenen Aggressionen bewusst zu werden und herauszufinden, wodurch diese bei einem Protest oder einer physischen Konfrontation, etwa mit der Polizei, getriggert werden könnten. Auch Gandhi hat solche Trainings beispielsweise mit seinen Anhänger_innen durchgeführt. Auch Jesus musste Petrus, gegen dessen Intuition, ausdrücklich darum bitten, sein Schwert wieder wegzustecken. An diesem biblischen Beispiel zeigt sich: Die bereits gewaltlos Handelnden können andere zu Gewaltlosigkeit ermuntern und dazu beitragen, dass sie sich ebenfalls gewaltfrei verhalten.
Feindesliebe ist nicht natürlich
Christlich gesprochen sind praktische Feindesliebe oder das Hinhalten der anderen Wange ja gerade nicht natürliche Haltungen, sondern riesige Herausforderungen, die gewissermaßen als Tugenden eingeübt werden wollen und fast immer hinter ihrem Anspruch zurückbleiben müssen. Denn auf mir zugefügte Gewalt reagiere ich natürlicherweise, intuitiv erst einmal auch mit Gewalt oder mindestens mit dem Wunsch, denjenigen auch zu verletzen, der mich verletzt, mich zu rächen.
Gewaltfreier Protest ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern bedarf der Vorbereitung und einer gewissen inneren Abstraktion von den eigenen Verletzungen und Gewaltpotenzialen, um annähernd in der Lage zu sein, sich gewaltlos denjenigen in den Weg zu stellen und gewaltfrei denjenigen gegenüber zu bleiben, die ihm, ihr oder der kollektiven Opfergruppe Gewalt angetan haben, antun wollen oder weiterhin antun.