Corona: Die Versäumnisse der Presse

Das Land ist gespalten über den richtigen Zeitpunkt für Öffnungen und den politischen Umgang mit dem Coronavirus. An sich sind Meinungsverschiedenheiten in einer Demokratie kein Problem. Doch die Konflikte werden gegenwärtig kaum ausdiskutiert. Stattdessen formiert sich eine beunruhigende Front von Verschwörungstheoretikern und gewaltbereiten Gruppierungen. Presse und Medien, selbst momentan Angriffen ausgesetzt, müssen stärker den demokratischen Dialog moderieren.

Warum wird das Klima rauer?

Binnen kürzester Zeit wurden in Berlin zwei Kamerateams des öffentlich-rechtlichen Fernsehens angegriffen. Viel spricht dafür, dass die Angreifer dem verschwörungstheoretischen Lager zuzurechnen sind, die momentan beanspruchen, die einzige oppositionelle Kraft darzustellen. Ausgerechnet nach Demonstrationen „für Grundrechte“ wurden Journalisten krankenhausreif verprügelt, die Presse und ihre Freiheit damit bedroht. Ohnehin nimmt der Druck auf Journalist:innen zu, gerade auch aus rechtsextremen Kreisen.

So sehr man mit den üblichen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden nun dahinterkommen muss, wie diese neue gefährliche Formierung funktioniert, steht auch eine Analyse der Medienlandschaft an. Es drängt sich nämlich zunehmend der Eindruck auf, dass es zu wenig Raum gab für eine zivilisiert geführte Debatte, von der nicht Aufhetzer profitieren.

Schwierige Entscheidungen

Die Aufforderung zur Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft stand im Frühjahr 2020 zu Recht im Zentrum vieler Berichte und Kommentare. Leider sind jedoch gerade in Krisenzeiten schwierige Entscheidungen zu treffen und ihre Folgen abzuwägen: Schützt man Risikogruppen besser durch „social distancing“ oder durch verstärkte Hygienemaßnahmen? Sollten Grenzen geschlossen werden? Das könnte zwar die Ausbreitung des Virus verlangsamen, jedoch auch dazu führen, dass viele osteuropäische Pflegekräfte das Land verlassen. Soll gar die Bundeswehr im Inland eingesetzt werden? Die Politik muss diese Debatten führen, und sie sind keineswegs vorentschieden. Jede Entscheidung hat schwerwiegende Auswirkungen.

Gerade weil Menschen wegen steigender Todeszahlen verängstigt sind und das nachvollziehbare Bedürfnis nach Sicherheit und Einordnungen haben, haben Presse und Medien die Aufgabe, den Regierenden genau zuzuschauen und ihnen kritisch die Frage zu stellen, welchen Kurs sie mit welcher Begründung einschlagen.

Statements von entschlossenen Krisenmanagern

Der Medienwissenschaftler Otfried Jarren analysierte bereits Ende März, dass insbesondere öffentlich-rechtliche Fernsehsender dieser Aufgabe nicht gerecht geworden seien. Stattdessen ließen sie den Politikern durchgehen, sich als entschlossene Krisenmanager zu inszenieren, indem sie viele Statements, aber kaum Debatten sendeten. Nach welchen Maßstäben und mit welchen Argumenten trifft die Politik welche Entscheidungen? Diese Frage regte sich in der Bevölkerung immer stärker, wurde aber von den Tagesthemen bis zur „ZEIT“ kaum aufgegriffen.

Stattdessen ließ man mit Livetickern auf die neuen Beschlüsse des Bundesrats warten, wie auf Bundesligaergebnisse. Dabei kommt einer demokratischen Presse eine Kontrollfunktion zu. Statt diese auszuüben, so Jarren, habe man jedoch die immer gleichen Bilder aus China und Italien gesendet, ohne hinreichende Einordnung und Kommentierung. Die Fotos von Kühllastern voller Leichen vermittelten den Eindruck, es sei vor allem Zeit zu handeln. Kritische Nachfragen mussten selbstgerecht und fehl am Platz wirken. Doch diese Alternative ist trügerisch: Gerade Krisenentscheidungen von so großer Tragweite müssen wohlüberlegt getroffen werden - und vor allem müssen sie von einer kritischen Öffentlichkeit ständig überprüft werden.

Das Verhältnis zur Wissenschaft

Die Bundesrepublik ist eine komplexe Gesellschaft. Dennoch seien, so der Medienwissenschaftler Holger Wormer, lange Zeit zwar Mediziner:innen, aber kaum ein Sozialwissenschaftler oder Psychologe zu Wort gekommen. Wahrnehmbar wurden vor allem Studienergebnisse von Virologen für eine nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit dargestellt, oftmals aber nicht hinreichend eingeordnet. Der Tatsache, dass es in der Wissenschaft selten einen absoluten Konsens gebe und sich auch unumstrittene Forschungsergebnisse nicht unmittelbar in politische Schlussfolgerungen übersetzen ließen, sei in der Berichterstattung kaum Rechnung getragen worden.

Welche Strategie verfolgen wir eigentlich?

Auch die Kommunikationsstrategie der Bundesregierung wirkte vielfach unbeholfen. Zunächst sollte die Dauer, bis sich die Zahl der Covid-Fälle verdoppelte, mindestens sieben Tage betragen, dann zehn, später 14. Wenig später ging es plötzlich um die Reproduktionszahl „R“, die unter „Eins“ getrieben und die Krankheit damit schließlich ganz ausgerottet werden sollte. Die Entscheidungen der Bundesregierungen und Landesregierungen haben Gründe. Doch hat die Bevölkerung einen Anspruch darauf, diese Gründe, Hintergründe und Entscheidungsprozesse auch zu erfahren. Die Medien müssten die Regierungen wie deren beratende Virologen stärker nach ihren Entscheidungskriterien fragen.

Die berechtigte Kritik

Im Laufe der letzten Monate wurde aus verschiedenen Richtungen Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung geübt. Längst nicht alle Kritiker leugneten dabei die Gefahr, die von der Krankheit ausgeht, waren zynisch wie Boris Palmer oder dumm wie die AfD. Stattdessen beklagte etwa der Verein „Pflegeethik-Initiative Deutschland“, beim Schutz der Senioren und Pflegebedürftigen würden falsche Prioritäten gesetzt. Die zeitweise ausgesprochenen Besuchsverbote seien unmenschlich und unter Einhaltung eines sinnvollen Hygieneprotokolls unnötig. In eine ähnliche Richtung gingen auch Berichte mancher Betroffener, die von Vereinsamung und Isolation sprechen.

Zu lange wurden diese Stimmen überhört, obwohl sie doch gerade von denen kamen, die vor der Krankheit geschützt werden sollten. Mit mehr kritischen Nachfragen hätte die Politik dazu gebracht werden müssen, ihre Konzepte zu erläutern und damit überprüfbar zu machen. Auch, weil die seriösen Medien diesen Debatten keine Plattform geboten haben, formiert sich nun eine gefährliche Opposition gegen Medien und Politik. Die verschwörungstheoretische Querfront von Ken Jebsen, Attila Hildmann und anderen, etwa gewaltbereiten und/oder AfD-nahen Gruppierungen könnte weiter Zulauf erhalten, wenn es Journalist:innen nicht gelingt, die gesellschaftliche Kontrollfunktion stärker wahrzunehmen. Journalismus könnte dann nicht nur zur Bekämpfung der Pandemie und zum Schutz der Schutzbedürftigen beitragen. Er würde es den Rattenfängern auch schwerer machen, die Verunsicherung der Menschen für ihre Zwecke zu nutzen.