Forderungen von Kirchenvertretern, die Maßnahmen gegen Corona schon jetzt zu lockern, kommen verfrüht und erwecken den Anschein, größere Gefahren und Opfer der Krise zu vernachlässigen. Die Kirche sollten die Krisenzeit lieber nutzen, um die Relevanz ihrer Angebote zu überdenken.
Kirchenvertreter und Gläubige haben in den letzten Tagen gefordert, teils unter Einsatz von Rechtsmitteln, das Verbot zu lockern, öffentliche Gottesdienste zu feiern. Einige Menschen fühlen sich durch die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in der Ausübung ihrer Religionsfreiheit verletzt, Christen vor allem mit Blick auf die anstehenden Gottesdienste der Kar- und Ostertage.
Epidemiologen raten momentan sogar dazu, die Kontakteinschränkungen noch zu verstärken, weil bisher kein wirksamer Rückgang der Neuinfektionen zu verzeichnen ist. Zudem ist fraglich, wie seuchenhygienisch einwandfreie Gottesdienste funktionieren sollen. Es bräuchte ausreichend Personal für Einlasskontrollen, Material wie Atemmasken, Handschuhe und mehr. Solche Schutzmaßnahmen können aber selbst auf manchen Intensivstationen in Krankenhäusern wegen Materialknappheit nicht ausreichend umgesetzt werden.
Das Kreuz desinfizieren?
Eine apokalyptisch-sterile Quarantäne-Atmosphäre in solchen Gottesdiensten wäre außerdem Folge. Kommunion mit Handschuhen? Das Kreuz im Karfreitagsgottesdienst nach jeder Berührung, jedem Kuss desinfizieren? Wäre es nicht besser, zuhause zu beten und Gottesdienste im Fernsehen, Radio oder Internet mitzufeiern?
Die Forderung nach einer schnellen Lockerung der Maßnahmen ist zudem ein Schlag ins Gesicht der ÄrztInnen, PflegerInnen, Einsatzkräfte und aller anderen, die momentan jeden Abend als „systemrelevant“ beklatscht werden. Fast 4.000 ÄrztInnen in Deutschland haben sich bereits selbst mit Corona infiziert. Es wird oft leichtfertig über die Kapazitäten des Gesundheitssystems gesprochen, wenn es darum geht, „die Kurve der Infektionen flach zu halten“.
Martyrium der Ärzte und Pfleger
Dabei müsste es doch nicht bloß um die technische „Zahl der Betten“, sondern vor allem um menschliche „Kapazitäten“ gehen, um die Menschen, die sich täglich selbst in Gefahr bringen und für die Gesundheit ihrer Mitmenschen kämpfen. Sollen sie bis zum buchstäblichen Martyrium arbeiten, damit andere ihre grundgesetzlichen Freiheiten jederzeit vollumfänglich wahrnehmen können?
Natürlich belasten die Kontakt- und Ausgeh-Beschränkungen in der Krise viele Menschen auch seelisch. Sie leider unter der Ungewissheit, wann die Einschränkungen vorbei sein werden, sorgen sich um Angehörige und Freunde, haben existenzielle und wirtschaftliche Sorgen. Daher braucht es auch Angebote für die seelische Gesundheit. Dazu gehören für religiöse Menschen auch Gottesdienste. Kirchliche Verantwortungsträger fühlen sich in ihrer Berufung verantwortlich für das Seelenheil ihrer Gemeindemitglieder, daher müssen sie entsprechende Angebote machen dürfen.
Seelenheil und körperliche Gesundheit
Gleichzeitig tragen Geistliche Verantwortung für den ganzen Menschen, also auch für die körperliche Gesundheit der Gläubigen – und nicht zuletzt auch für die Gesamtgesellschaft. Denn eines ist in dieser globalen Krise deutlich geworden: Um die Pandemie einzudämmen, ist gerade nicht jeder einzelne nur für sich selbst und seine eigene Gesundheit verantwortlich, sondern das eigene Verhalten wirkt sich jederzeit auf die Gesundheit von Mitmenschen, Mitbürgern, religiös gesprochen: von Mitbrüdern und -schwestern aus.
Doch in der der Krise spüren Kirchenvertreter stärker als zuvor den unaufhaltbaren Bedeutungsverlust kirchlichen Lebens und institutionell begangener Religiosität. Bereits vor ein paar Wochen vermeldeten einige katholische Bischöfe, die Sonntagspflicht, also das kirchenrechtliche Gebot, jeden Sonntag andächtig den Gottesdienst zu besuchen, sei nun erst einmal ausgesetzt. Diese Hinweise wirkten wie aus der Zeit gefallen.
Sonntagspflicht aufgehoben – für wen?
Die bisherigen Modelle von Pfarrei, Gemeinde und Gottesdienst verändern sich seit Jahren. Allenthalben wird der Schwund von Kirchenmitgliedern verharmlost und beschönigt. Doch Menschen bräuchten eben nicht Gottesdienste um der Sonntagspflicht willen, sondern Räume für die Seele, für Stille, für existenzielle Fragen.
Es wäre illusorisch, zu glauben, mit der Lockerung der Corona-Maßnahmen oder nach dem Ende der Pandemie würde es auf einmal zu massenhaften Wiedereintritten und steigenden Gottesdienstbesuchen kommen. Momentan wirken die Aufrufe mancher Kirchenvertreter geradezu so, als würden die Gläubigen aller Altersgruppen ihnen nur wegen der Krise nicht mehr jeden Sonntag die Türen einrennen.
Lob der Leere und Stille
Christen und Kirchen loben üblicherweise Praktiken und Tugenden wie Verzicht, Askese, das Aushalten von Stille und Leere, Rückzug und Einkehr. Vielleicht sollten die Kirchen diese Fastenzeit einmal nutzen, um sich zurückzuziehen, zu reflektieren, die eigene Rolle zu überdenken. Wie soll es nach dieser Fastenzeit, wo Verzicht sonst immer so gelobt wird, Einfachheit, Armut angeblich hohe Ideale seien, weitergehen?
Das religiöse Leben fällt zurzeit ohnehin nicht aus – eher im Gegenteil, wie sich seit Wochen mit einer nicht enden wollenden Zahl von Live-Streams und anderen digitalen Möglichkeiten zeigt. Gleichzeitig hält sich schon seit Beginn der Fernsehgottesdienst-Übertragungen 1979 das diffuse Gefühl, über Medien vermittelt funktioniere Gottesdienst nicht. Viel zu lange hat man aus diesem Gefühl heraus auch die digitalen Medien als Spielerein abgetan.
Religiöse Eigenverantwortung und Umdenken
Anderenfalls hätte man viel früher flächendeckend mit digitalen religiösen Angeboten auf gesellschaftliche Entwicklungen wie die zunehmende Individualisierung reagieren, den Menschen deutlich mehr Eigenverantwortung für ihr Glaubensleben übertragen müssen. Stundengebet online beten, Kontemplation zuhause und Austausch darüber im Netz, Online-Exerzitien – all das findet statt, meist aber aus privater Eigeninitiative und mit wenig institutioneller Unterstützung. Was weiterhin allein zu zählen scheint: die sonntägliche Eucharistiefeier in der Kirche.
Auch abseits des Internets fehlt den meisten Gläubigen das Vertrauen, ihren Glauben selbständig, erwachsen praktizieren zu dürfen. Die in der Krise wie Pilze aus dem Boden schießenden Online-Übertragungen von Eucharistiefeiern, in denen der Priester allein vor der Kamera zelebriert, offenbaren diese Unsicherheit auf beiden Seiten, bei Priestern und Gläubigen. In gewisser Weise ist die Kirche gegenwärtig in einer Art Diaspora: Der Glaube kann unter besonderen Umständen nicht vollumfänglich so gelebt und gefeiert werden wie gewohnt. Die Wirtschaft erholt sich wieder, die deutsche Kirche nicht ohne Umdenken.