Bei der Anti-Missbrauchskonferenz im Vatikan wurden viele Chancen vergeben, die Wurzel des Problems wirklich anzugehen. Bei aller berechtigten Kritik ist jedoch nicht die Wortwahl des Papstes das Problem und auch die gesellschaftliche Verortung des Phänomens sexualisierter Gewalt ist keine Relativierung, sondern wichtiger Teil der Analyse. Doch der richtige Schluss aus der Diagnose wurde nicht gezogen: das Aufbrechen der Männerbündelei durch Kontrolle von unten und die Stärkung der Frauen.
Falscher Fokus auf der Wortwahl
Es gehört zu den Verfallserscheinungen der Kultur im 21. Jahrhunderts, dass ein unangemessener Fokus auf den Worten, Formulierungen und Äußerungen von Personen in Verantwortungspositionen liegt. Donald Trump etwa macht sich diese Entwicklung zu Nutze, indem er durch Tweets die öffentliche Aufmerksamkeit und Empörung auf sich zieht, sodass sein Kabinett halbwegs unbehelligt die amerikanische Politik im Sinne ihrer (Wirtschafts-)Interessen umbauen kann. Dass ein großer Teil heutiger Kommunikation über die sozialen Medien läuft, trägt dazu seinen Teil bei.
Ähnliches beobachten wir heute bei den Reaktionen auf die Rede von Papst Franziskus zum Abschluss der Anti-Missbrauchskonferenz im Vatikan. Dass er den Missbrauch satanisch nennt, impliziere, dieser stoße der Kirche „von außen“ zu, bemerkt etwa der Jesuit Klaus Mertens im Deutschlandfunk. Ein zweiter Punkt, den etwa der Bund der Deutschen Katholischen Jugend kritisiert, ist, dass es nicht zu persönlichen Schuldeingeständnissen kam. Das mag zwar richtig sein, doch was hätte eine rhetorische Selbstgeißelung geholfen?
Stattdessen hat Papst Franziskus in seiner Rede etwas anderes getan, was man ihm böswillig als Relativierung und Schuldabwehr auslegen könnte, tatsächlich aber eher für die Ernsthaftigkeit des päpstlichen Anliegens spricht: Er hat gesellschaftliche Zusammenhänge benannt. Denn obwohl, wie Franziskus selbst betont, die Missbrauchsfälle in der Kirche besonders verwerflich sind, da sie „im Gegensatz zu ihrer moralischen Autorität“ stehen, ist sexualisierte Gewalt eine viele Gesellschaftsbereiche durchziehende Katastrophe. Berichten zufolge, wird quasi jede aus Südamerika in die USA fliehende Frau auf der Flucht mehrfach vergewaltigt. Phänomene wie diese, ebenso wie der von Franziskus selbst angesprochene Sextourismus Wohlhabender, die im Ausland sexuelle Beziehungen mit ökonomisch abhängigen Minderjährigen unterhalten, unterstreichen erneut, was die MHG-Studie bereits gezeigt hatte: Die Wurzel des Problems ist der Machtmissbrauch durch Männer – und nicht etwa das (vielleicht aus anderen Gründen diskussionswürdige) Zölibat oder (die dümmste und falscheste aller Erklärungsversuche) die unterstellte Homosexualität der Täter.
Die Männerbündelei aufbrechen!
Gibt es nun aber etwas an der Struktur der Kirche, das Umstände schafft, die missbräuchliches Verhalten und Machtmissbrauch begünstigen? Leider ja; und Papst Franziskus hat es in der Rede ebenfalls angesprochen: ein Hauptproblem ist die „Kultur des Vertuschens“, die Unsitte des Wegsehens, die Männerbündelei. Wie wirksam der – im schlimmsten Sinne des Wortes – Täterschutz ist, zeigt sich etwa daran, dass kein einziger Deutscher Bischof es für nötig hielt, im Laufe der Zeit freiwillig zurückzutreten und einzugestehen: „Ich habe versagt“. Mitwisser und Täter machen sich immer noch Hoffnungen, davonzukommen. Und hier haben die vielen Kritiker der Konferenz sicherlich recht: Warum sind die Opfer des Missbrauchs nicht viel stärker in die Entwicklung von Gegenkonzepten eingebunden? Warum redet man so viel über sie, statt mit ihnen?
Papst Franziskus hat vor Monaten angekündigt, den Frauen in der Kirche mehr Verantwortung zu geben – diese Gelegenheit wurde ebenso verpasst. Die konkreten Schritte, die Franziskus entgegen anders lautender Kritik durchaus angekündigt hat, kranken am selben Problem: sie versuchen, Veränderungen von oben nach unten zu verordnen. „Task-Force“, Leitfaden etc. adressieren diejenigen, die sich bereits in Machtpositionen befinden – und verstärken unter Umständen die Machtasymmetrie. Statt denjenigen, die ohnehin Ämter und Posten bekleiden, noch mehr Verantwortung zu geben, bräuchte es Mechanismen der Kontrolle von Amtsinhabern durch die Gemeindemitglieder. Natürlich nicht in Glaubensfragen, aber in Fragen der Verwaltung einer Weltkirche, sollte sich jede Autorität nicht nur vor Gott und dem eigenen Gewissen verantworten müssen, sondern auch vor denen, die die Konsequenzen getroffener Entscheidungen zu tragen haben. Nur Kontrolle von unten wird den Machtmissbrauch von oben aufbrechen können.
Immerhin: Globalisierung der Aufmerksamkeit
Trotz vergebener Chancen, zu geringer Einbindung der Opferverbände und ungebrochener männlicher Dominanz, macht die schiere Existenz des Gipfels Hoffnung. Das Problem wurde zu keinem Zeitpunkt verharmlost, wie Kardinal Marx richtig feststellt, ist die vorgegebene Linie unzweideutig. So präsent wie in Westeuropa und den USA wurde das Thema Missbrauch nicht überall auf der Welt diskutiert; es ist also als wichtiger Schritt zu werten, dass die Konferenz es auch medial zu dem globalen Thema gemacht hat, das es in Wirklichkeit schon viel zu lange ist.