Kirche(n): Mut zur Öffnung und zu pastoralen „Experimenten“

„Wir werden immer weniger“. Dies ist in vielen Gemeinden zu hören. Die Folge: Die „Verbliebenen“ ziehen sich ins Schneckenhaus zurück und Neuerungen werden nur als Herausforderung und nicht auch als Chance angesehen. Dass es anders geht, zeigen drei Beispiele, die Mut machen, dass sich Kirche(n) stärker öffnen und Gemeinden mehr pastorale „Experimente“ wagen.

Laut Duden online kann das Wort „Experiment“ zwei Bedeutungen haben: Einerseits „wissenschaftlicher Versuch, durch den etwas entdeckt, bestätigt oder gezeigt werden soll“ und andererseits „[gewagter] Versuch, Wagnis; gewagtes, unsicheres Unternehmen“. Und genau diese beiden ganz unterschiedlichen Definitionen treten auch zur Tage, wenn in Gemeinden über pastorale Experimente beraten wird. Die folgenden drei Beispiele aus dem Bistum Essen sollen zeigen, dass sich der Mut zur Öffnung und pastoralen „Experimenten“ für Gemeinden lohnen kann.

Beispiel 1: Citypastoral und Fanpastoral

Citypastorale Angebote – mancherorts in ökumenischer Kooperation – gibt es bereits in einigen Städten und in NRW gibt es beispielsweise ein Netzwerk der Citystandorte, die gemeinsam Aktionen, wie den „Roten Teppich entwickelten. Passant:innen werden eingeladen – angelehnt an dem Einzug Jesus Christus auf Palmzweigen nach Jerusalem – auf einem roten Teppich in der Fußgängerzone zu streiten und sich einmal als „König:in“ zu sehen. Das Credo: Kirche kann überraschen und den Menschen (ungewöhnliche) „touch points“ und Gesprächsorte anbieten.

Um „touch points“ und vor allem um Begegnungs- und Gesprächsmöglichkeiten geht es auch in der gestern eröffneten Fußballkirche in Bochum. Die evangelische „Lutherkirche am Stadion“, die sowohl direkt am Stadtpark als auch in Nachbarschaft des Vonovia-Ruhrstadions liegt, öffnet als „FanDOM“ vor jedem Heimspiel des VfL Bochum seine Tore. „Der FanDOM lädt alle Fans ein – ob vom VfL Bochum oder der Gastmannschaft – in den dicken, ruhigen Mauern der Lutherkirche durchzuatmen und neue Energie zu tanken“, verdeutlichte Pfarrer Henri Krohn (s. Bericht in unserem Partnerportal https://explizit.net/religion/artikel/wenn-glaube-und-fussball-sich-begegnen/). Der gut besuchte ökumenische Eröffnungsgottesdienst zeigte, dass Fanpastoral – wie in Gelsenkirchen und Dortmund – einen Nerv bei den Fans trifft und auch Menschen, die noch nie oder schon lange nicht mehr einen Kontakt zur Kirche hatten, einen „touch point“ finden.

Beispiel 2: Neugestaltung von Kirchräumen

„Nichts ist so beständig, wie der Wandel“, soll bereits Heraklit gesagt haben. Aber in vielen Gemeinden trifft dies noch nicht auf die Gestaltung der Kirchräume zu. Was sich schon alles verändern kann, wenn man „nur“ die Kirchbänke entfernt bzw. reduziert und neu dialogisch aufstellt, wird gerade in Propsteikirche St. Gertrud in Bochum-Wattenscheid ausprobiert. Der neu geschaffenen Raum wird zur (Neu-) Entdeckung des Kirchraums und für neue (pastorale) Angeboten) genutzt. Besucher:innen der Kirche zeigten sich gestern positiv überrascht, wie ein Kirchraum „ganz anders und viel einladender wirken kann“, als eine „komplett zugestellte Kirche“.

Noch einen Schritt weiter geht die evangelische Pauluskirche im Bochum-Langendreer. Hier wird – im Rahmen eines jugendpastoralen Projektes – der Kirchraum in einem Ort für (erlebnispädagogische) Angebote umgebaut. Umgangssprachlich entsteht eine „Kletterkirche“, also eine neun Meter hohe Traverseninstallation, mit der beim Klettern neue (spirituelle) Erfahrungen ausprobiert werden können. Um Platz dafür zu schaffen, haben jungen Menschen auch hier die Kirchbänke ausgebaut, aber danach selber Hand angelegt und neue Sitzgelegenheiten aus Holz geschaffen. Kirchenbänke als Upcycling – Projekt. Ein Konzept, dass nicht nur in Bochum überzeugen kann und daher den „Innovationspreis“ der evangelischen Kirche von Westfalen erhielt.

Beispiel 3: Nacht der offenen Kirchen

Das auch alte Rezepte helfen können, zeigt das Konzept „Nachte der offenen Kirchen“, dass in diesem Jahr an mehreren Orten eine Renaissance erfährt, wie am gestrigen Tag in Bochum. 20 evangelische und katholische Kirchen und Einrichtungen öffneten dabei von 17 Uhr bis Mitternacht ihre Pforten und boten ungewöhnliche Zugänge, um Kirche(n) wieder oder neu zu entdecken. Diese „Events“ bieten dabei eine doppelte Chance: Einerseits vernetzen sie die (Bestands-) gemeinde und andererseits kommen Menschen dadurch mit Kirche(n) in Berührung, die der klassische Sonntagsgottesdienst nicht erreicht. Das erzählten gestern Abend zwei Frauen in Bochum: Wir waren neugierig, warum so spät noch Licht in der Kirche ist und zudem die besondere ruhige und spirituelle Atmosphäre einer Kirche in der Nacht erleben. „Es hat sich gelohnt.“

„Kriecht aus deinem Schneckenhaus und zieh die alten Kleider aus…“ (Pfadfinderlied)

Fazit: Zugegeben: Die oben genannten Beispiele sind nicht immer neu. Fanpastoral gibt es bereits länger „auf Schake“ sowie in der BvB-Gründerkirche und die „Kletterkirche“ hat es schon im „Gleis X“ in Gelsenkirchen gegeben. Aber es geht nicht um Innovationspreise, sondern es geht um eine Grundsatzentscheidung „Stillstand ist Rückschritt“ (Rudolf von Bennigsen-Foerder) oder „Auf dem Weg in die Irre ist Rückschritt Fortschritt" (Josef Viktor Stummer)?

(Gemeinde-) Pastoral sollte auf die jeweiligen Bedürfnisse der Zielgruppe und des sozialen Raums (Land, Stadt, sozialer Brennpunkt) passend zugeschnitten sein und dabei bereit sein, bisherige Pfade zu verlassen und sich auf neue Experimente einzulassen. Dabei hilft vielleicht das alte Pfadfinderlied: „Kriecht aus deinem Schneckenhaus und zieh die alten Kleider aus.“

Hinweis: Im Partnerportal explizit.net wird im September / Oktober 2024 - im Rahmen des Monatsthemas "Kirche im Wandel" - ein Blick auf pastorale Experimente im digitalen Raum geworfen und die Frage gestellt werden, ob und wenn ja KI dabei unterstützen kann?

Christian Schnaubelt (Chefredakteur und Herausgeber kath.de)