Das Sakrament des bronzenen Hut-Hakens

Der Aufbau der meisten Kirchenräume entspricht nicht den spirituellen und religiösen Bedürfnissen von Millennials. Unser Autor, und vielleicht andere junge Erwachsene, wünschen sich Ruhe, Reflexion und intime Gemeinschaft. Jesus hat als Zimmermann keine hölzernen Kirchenbänke gebaut, sondern mit der Fußwaschung das angemessene Millennial-Sakrament gestiftet.

Rudy and Peter Skitterians / Pixabay

Als Millennial fühle ich mich Jesus sehr nahe, er wurde auch um die Jahrtausendwende geboren, brauchte lange, bis ihm klar wurde, dass er etwas Eigenständiges machen musste, keine hölzernen Kirchenbänke zimmern, die religiösen Gewohnheiten seiner Zeit hinterfragen, um seine eigene Spiritualität zu finden. Er hatte den Wunsch, mit engen Freund:innen etwas Neues aufzubauen, mit ihnen zusammen zu sein, mit ihnen neue religiöse Formate auszuprobieren. Vor ein paar Tagen las ich ein christliches Internet-Mem: „Nobody talks about Jesus‘ miracle of having 12 close friends in his 30s – Niemand spricht über das Wunder Jesu, in seinen Dreißigern 12 enge Freunde zu haben“. Berufseinstieg, Karriere, Flexiblität und Mobilität, digitales Leben – die Zeit für enge Freundschaften muss ich mir als Millennial aktiv nehmen. Millennial-Gottesdienst könnte bedeuten, wie Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl gemeinsam Erfahrungen und Erlebnisse auszutauschen, zu essen, zu trinken, gemeinsam zu singen und zu schweigen, die Freude aneinander vor Gott zu bringen, aber auch das Schwierige: Misserfolge und Scheitern, sogar die Konflikte in der Gruppe. Im Johannesevangelium spricht Jesus den bevorstehenden Verrat durch Judas offen an.

Eucharistie im kleinen Kreis – nicht aus der letzten Bank

Ich kann mich auch gut in Petrus bei der Fußwaschung hineinversetzen. Erst hat er Angst vor der Nähe, vor der ungewohnten Verdrehung gesellschaftlicher Regeln und religiöser Gewohnheiten. Jesus will ihm nahe sein, Petrus soll aus der hintersten Kirchenbank rauskommen, nach vorne. Jesus kommt von der Altarinsel herunter zu ihm, will ihn mitnehmen in den familiären, freundschaftlichen Kreis der Eucharistiefeier rund um den Altar. Die Auflösung der Asymmetrie in der Beziehung verstört Petrus zunächst – Jesus wird vom Lehrer zum Freund und Diener. Als Jesus ihm klarmacht, dass er ihm die Füße waschen muss, weil er sonst keinen Anteil an ihm hat, will Petrus ganz gewaschen werden. Wenn ich in den Gottesdienst gehe, will ich Jesus nahe sein, nicht auf Entfernung in der Bank sitzen. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“

Ich möchte Anteil haben, gemeinsam mit den anderen in der Kirche zur Ruhe kommen, im Kreis sitzen, schweigen, Lieder singen, einander dabei zuhören, Gott loben und feiern, selbst formulierte Dankgebete und Fürbitten einbringen. Eine:r oder mehrere im Kreis können die Lesungen vortragen, jede:r kann sagen, wie der biblische Text auf ihn/sie wirkt, was ihn oder sie anspricht, es kann auch eine kurze Predigt geben, der Priester sitzt mit im Kreis. Die Eucharistie wird herumgegeben, einander gespendet.

Sicherheitsbedürfnis, Angst vor Veränderungen

Wie Petrus vor der Fußwaschung habe ich auch ein wenig Angst vor der Abschaffung gewohnter Formen und Regeln. Wie soll das bloß werden, mit fremden Leuten im Kreis um den Altar zu sitzen, ohne die schützende Holzbank vor und hinter mir? Wenn ich fordere, die Bänke aus den Kirchen zu tragen, setze ich auf Unsicherheit. Das ist mir als Millennial eigentlich gar nicht recht. Es verändert sich schon ohne das Zutun unserer Generation so vieles, viele von uns haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Ich möchte diese Neigung aber nicht über meinen Wunsch nach Reflexion, Innerlichkeit, Gemeinschaft und neuen Erfahrungen stellen.

Ich kenne einige Kirchenräume und liturgische Formen, die der gemeinschaftlichen Feier nach dem Vorbild des Gründonnerstags ein wenig näherkommen. In der Kirche der ökumenischen Brüdergemeinschaft von Taizé in Burgund sitzen alle, auch die Brüder auf dem Teppichboden oder auf kleinen Gebetshockern, alle beten gemeinsam in dieselbe Richtung. Die Kirche kann jederzeit mit mobilen Wänden an die tatsächliche Gruppengröße angepasst werden kann, sie fühlt sich nie zu klein oder zu groß an. Zur Fußwaschung am Gründonnerstag kommen die Mönche zu allen Gottesdienstbesucher:innen in der ganzen Kirche. In der Kunststation Sankt Peter der Jesuiten in Köln werden nur so viele Stühle gestellt wie auch tatsächlich Gottesdienstbesucher:innen kommen, es entsteht nicht der Eindruck, die Kirche sei leer. Ich fühle mich darin auch mit wenigen Menschen nicht verloren. In Exerzitienhäusern, etwa dem Haus Gries für Kontemplation, wird der Meditationsraum auch für die Eucharistiefeier genutzt, ein kleiner Altar wird in die Mitte gestellt, darum herum sitzen alle im Kreis auf Gebetshockern oder Kissen.

Fußwaschung: Das Millennial-Sakrament

Ich finde, die Fußwaschung müsste zum Sakrament erhoben werden. Jeden Sonntag, sogar täglich wird Eucharistie in Brot und Wein, Leib und Blut Christi gefeiert. Paulus schreibt im Ersten Korintherbrief, dass Jesus sagte: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Im Johannesevangelium hat Jesus aber auch gesagt: „Wenn nun ich euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ Warum wird dieser Auftrag nur einmal im Jahr umgesetzt, das Brechen von Brot und Wein aber täglich?

Das Zeichen der Fußwaschung drückt für mich die Intimität, Vertrautheit und Nähe aus, die ich mir von Gottesdiensten wünsche. In Holzbänken ist sie aber nicht möglich. Die schönsten, tiefsten Erfahrungen mit Gottesdiensten habe ich gemacht, wenn ich sie mit einer relativ kleinen Gruppe im Kreis gefeiert habe, auf Hockern sitzend oder auf dem Boden, zum Beispiel mit einer Jugendgruppe oder abends auf Exerzitien-Tagen – oft mit Menschen, die sich schon ein wenig kannten, zuvor gemeinsam etwas erlebt oder geschafft hatten, eine Weile zusammen unterwegs waren. Bei Exerzitien auf der Straße gibt es häufig eine Gottesdienstfeier, bei der die Begleitenden und Teilnehmenden einander die Füße waschen, ein sehr intimer Moment, oft kraftvoller und intensiver als eine Eucharistiefeier, bei der Brot und Wein als Leib und Blut Christi miteinander geteilt werden.

Der Garderoben-Haken für den Millennial-Hut

Für mich wäre die Fußwaschung das angemessene Millennial-Sakrament, nicht der bronzene Hut-Haken an der Kirchenbank. Wenn ich heute in die Kirche gehe, sitze ich meistens in langen, am Boden befestigten Holzbänken, vor mir eine Ablage für die Hände beim Niederknien oder die dicken Gotteslob-Gesangbücher, die aber oft von der schiefen Fläche krachend herunterfallen. Weiter unten sind diese Garderoben-Haken angebracht, wegen ihrer niedrigen Höhe zum Aufhängen von Jacken völlig unbrauchbar – geeignet eigentlich nur für Hüte, dem bekanntlich unverzichtbaren Accessoire für jeden gut-katholischen jungen Erwachsenen wie mich im 21. Jahrhundert.

Die allermeisten Kirchen sind architektonisch so aufgebaut und eingerichtet, dass ich mich wie in einem veralteten Klassenzimmer oder in einem Hörsaal an der Uni fühle. Vorne, hinter dem Altar oder Ambo steht der Priester, oft baulich erhöht, hält die Vorlesung. Er steht dem Gottesdienst vor, heißt es in liturgischer Sprache. In einiger Entfernung sitze ich in der unbequemen hölzernen Kirchenbank, neben und hinter mir, kreuz und quer verstreut, ein paar andere Leute, mit ordentlich Abstand zueinander, nicht erst wegen strenger Hygieneregeln. Oft sitzt man über den Kirchenraum und viele leere Bänke bis in die allerletzte Reihe verteilt. Die Bänke trennen mich von den anderen Gottesdienstbesucher:innen, ich fühle mich in solchen Kirchenräumen verloren, geschluckt von dem großen, leeren Raum.

Gottesdienste wie Frontalunterricht oder Vorlesungen

Viele Gottesdienste, die ich erlebt habe, wirken durch diesen Aufbau konfrontativ, wie Frontalunterricht. Dabei gilt dieses Format schon in den Schulen und Unis eigentlich als überholt, wird aber trotzdem noch immer angewendet. Für mich ist diese Form wenig einladend. Meinen religiösen und spirituellen Bedürfnissen entspricht diese Art von Kirchen jedenfalls nicht. Gottesdienst soll für mich keine Vorlesung sein. Ich will mich nicht berieseln lassen, Informationen erhalten, mein Wissen vergrößern. Wenn ich in die Kirche gehe, möchte ich kein Glaubenswissen vermittelt bekommen, ich brauche vom Priester in der Predigt keine theoretische Auslegung der Bibel. Ich habe zwar einen gewissen intellektuellen Anspruch, möchte aber nicht den Eindruck haben, belehrt zu werden, die sich wiederholenden biblischen Texte nacherzählt und erklärt zu bekommen. Für die Erklärung der Bibelstellen kann ich eine Predigt im Internet lesen oder auf YouTube schauen, einen Podcast hören.

Als katholischer Theologe und Journalist beschreibe ich kein individuelles Luxusproblem, das nur mich betrifft. Vielen in meiner Altersgruppe und noch Jüngeren, auch Nicht-Theolog:innen geht es ähnlich: Für uns müssen nicht viele Worte gemacht werden. Ich gehöre zur Generation der Millennials, der Altersgruppe, die um die Jahrtausendwende groß geworden sind, geboren in etwa zwischen den frühen 1980er- und späten 1990er-Jahren. Wir sind mit Smartphones und Google aufgewachsen, sind Wikipedia, Netflix gewöhnt, Mediatheken – jede Information der Welt ist ständig abrufbar auf kleinen Bildschirmen in unserer Hosentasche oder auf dem Nachttisch. Das ganze Internet ist voller Wissen, einfach zu konsumieren, wir fühlen uns von Inhalten, von Nachrichten oft überflutet. Wissen, Informationen, Einordnungen kann ich jederzeit im Internet abrufen. Warum sollten wir uns also für ein einseitiges Wissensvermittlungsformat eine Stunde lang in eine Kirchenbank setzen? Unsere spirituell-religiösen Bedürfnisse sind anders gelagert.

Spirituelle Sehnsüchte meiner Altersgruppe

Was mir fehlt und was ich mir wünsche, ist Zeit zum Nachdenken, für Stille, Rückzug, Meditation, dafür, mein Inneres anzuschauen, in Ruhe auf die vergangene Woche zu reflektieren, Zeit für mich selbst, für Beziehungen und Gemeinschaft, ich will mich über das Digitale hinaus erfahren und mit anderen verbinden. Wenn ich in die Kirche gehe, will ich nah dran sein, beteiligt, ein Teil von einer Gemeinschaft. Doch selbst wenn ich mich in die erste Reihe setze, fühle ich mich sehr weit entfernt, vom Priester, von dem, was „da vorne“ geschieht, sich abspielt, abgespult wird, und von den anderen, die um mich herum in den Bänken verteilt sitzen. Ich bin ich kaum am Geschehen beteiligt, fühle mich bloß zuhörend, berieselt, sitze unten in der Bank, wie ein Schüler oder Student – nur noch passiver. Ich gebe dem Priester zwar ein paar Antworten, spreche Gebete mit, erst gegen Ende der Veranstaltung schüttle ich zum Friedensgruß ein paar Hände, bewege mich für die Kommunion kurz aus der Holzbank heraus zum Priester nach vorne. Am eigentlichen Geschehen habe ich aber keinen richtigen Anteil.

Was mir bleibt, ist Mitsingen. Das tue ich leidenschaftlich gerne. Aber Kirchenräume sind oft hoch, weit und hallend oder sie schlucken den Schall so perfekt, dass ich fast nur mich selbst höre, vielleicht noch den Priester, der einsam vorne in sein Mikrophon singt. Die anderen Menschen sind entweder zu weit entfernt oder werden von der lauten Orgel übertönt. Ich will die anderen hören, gemeinsam singen, unsere Stimmen in Verbindung spüren, Gleichklang, Harmonie oder Dissonanz.

Millennial-Alltag: Distanz und Entfremdung

In meinem Millennial-Alltag bin ich an physische Distanzen und Entfremdung gewöhnt. Mein Leben spielt sich zu weiten Teilen digital ab, an Bildschirmen. Auf dem Smartphone erhalte ich ständig Informationen, Bilder, Eindrücke, bin dauernd in Verbindung, in Kommunikation mit anderen, im Bus, im Bett, auf der Toilette. Weil ich mit den Augen so nah an dem kleinen Bildschirm dran bin, mit den Fingern die vielen Bilder anfassen kann, fühlt es sich oft sehr nah an. Manchmal muss ich mich vor der Nähe, der Überfülle an Bildern und Informationen schützen.

Mitunter fühlen wir uns von uns selbst und der Welt entfremdet, spüren eine gewisse Angst vor dem Fremden, vor nicht Vertrautem. Es geht uns nicht um Beschulung mit Inhalten. Wir wünschen uns Nähe und Vertrautheit. Diese Grundstimmung und diese Bedürfnisse bringe ich mit, wenn ich in die Kirche gehe. Mit einer gelungenen Gottesdienstfeier verbinde ich Intimität und Gemeinschaft.

Gemeinschaft feiern wie die Jünger:innen

Wenn ich an Gründonnerstag darüber nachdenke, fällt mir die Atmosphäre, das Setting des letzten Abendmahls ein. Es gilt als Einsetzung, Stiftung der Eucharistiefeier, des Gottesdienstformats, das sonntäglich in der Kirche gefeiert. Haben die Jünger:innen in dem Saal in festen Holzbänken hintereinander gesessen und hat Jesus irgendwo vorne am Tisch gestanden? Wenn ich das biblische Zeugnis ernstnehme, dann wollte Jesus mit seinen engsten Freund:innen zusammen sein, ihnen nahe sein, gleichberechtigt. Sie haben in einem kleinen Kreis zusammen um einen Tisch herumgesessen, in einer Gruppe, die sich ziemlich gut kannte. Genauer gesagt wird erzählt, sie lagen zu Tisch, einer seiner Freunde wird sogar mit dem Kopf an seiner Schulter oder auf seinem Schoß liegend dargestellt. Sie haben ihre Gemeinschaft gefeiert.

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